Geschichte, Oberstufe, Andere Schulstufe, Gymnasium, Andere Schulart
Histoire/Geschichte – Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945
Herausgegeben von | Henri, Daniel et al. |
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Erschienen | Stuttgart: Klett, 2008 |
Seitenanzahl | 385 |
ISBN | 978-3-12-416511-4 |
Geeignet für | Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Thüringen |
Rezensiert von | Linning, Gunnar und Julian Lehmann (Studierende), 5. May 2010 |
Projekt | Christian-Albrechts-Universität Kiel, Sommersemester 2009 |
Rezension von Linning, Gunnar und Julian Lehmann (Studierende)
Histoire/Geschichte: Eine buchgewordene Männerfreundschaft
Die Geschichten Deutschlands und Frankreichs sind eng miteinander verbunden. Die Beziehung beider Länder wurde durch eine lange „Erbfeindschaft“ und von verheerenden Kriegen geprägt. Ausdruck des verbesserten Verhältnisses beider Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg ist der 1963 unterzeichnete deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Élysée-Vertrag, welcher seither beide europäischen Länder offiziell zur Zusammenarbeit verpflichtet hat. Durch ihn war die Grundlage für die einst tief zerstrittenen Nachbarn gegeben, zueinander zu finden. Dem Gedanken der Gemeinsamkeit und des gegenseitigen Verständnisses gewidmet, erschien 2006 mit „Histoire/Geschichte“ das erste deutsch-französische Geschichtsbuch, quasi eine buchgewordene Kohl-Mitterrand Männerfreundschaft. Das Buch behandelte den Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart und war zugleich der erste Band einer auf drei Teile ausgelegten Reihe, die sowohl für die Oberstufe der Gymnasien als auch für die des Lycée konzipiert worden ist. Herausgegeben vom Klett-Verlag auf deutscher und den Éditions Nathan auf französischer Seite, hat dieses Schulbuch-Projekt den bemerkenswerten Anspruch, in beiden Ländern einen identischen Inhalt zu vermitteln. Die Schwierigkeiten, denen sich bei diesem Vorhaben die Historiker, Schulbuchexperten und Fachbeamten beider Staaten zu stellen hatten, bestanden nicht nur darin, die unterschiedlichen pädagogischen und didaktischen Traditionen der Länder zu vereinen. Auch die Themen sowohl des französischen Lehrplans als auch der einzelnen deutschen Bundesländer galt es inhaltlich so zu berücksichtigen, dass die Prüfungsvoraussetzungen aller Länder gewährleisten waren.
Allgemeines
Im Frühjahr 2008 erschien nun der vorliegende zweite Band. Dieser trägt den Untertitel „Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945“ und thematisiert den Zeitraum vom Ende des napoleonischen Zeitalters bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Trotz seiner knapp 400 Seiten und des für ein Geschichtslehrwerk ungewöhnlichen Formats (in etwa DinA4) ist es relativ leicht, was vor allem am Einband liegt. Alle Bände aus der Reihe Histoire/Geschichte sind broschiert. Dies macht die Bücher zwar leichter und preiswerter, jedoch erkauft man sich dies teuer durch eine äußerst geringe Haltbarkeit. Den Büchern ist jeweils eine CD-Rom beigefügt, auf der die französische Ausgabe in digitaler Form enthalten ist. Die Reihe Histoire/Geschichte ist in allen 16 Bundesländern zugelassen. Mit einem Preis von 26,95 Euro liegt das Werk in der mittleren Preisklasse für Geschichtsbücher der gymnasialen Oberstufe.
Gestaltung und Aufbau
Das Unterrichtswerk ist durchweg sehr aufwendig und vielfarbig gestaltet – dies beginnt bereits mit dem in europäischem Blau gehaltenen Einband. Der wenig sparsame Umgang mit Farbe setzt sich im gesamten Buch fort. Begriffserklärungen, Quellentexte sowie Arbeitsaufträge („Fragen und Anregungen“) sind jeweils mit unterschiedlichen Farben hinterlegt, was grundsätzlich zu einer sehr guten Übersichtlichkeit führt und die klare Strukturierung des Buches unterstützt. In Anbetracht der Orientierung auf die gymnasiale Oberstufe erscheint es jedoch fraglich, ob ein solch geradezu verschwenderischer Umgang mit Farbe wirklich dem Alter der Schüler gerecht wird, zumal der farbenfrohe Gesamteindruck durch die zahlreichen, ebenfalls aufwendig kolorierten Abbildungen und Grafiken noch verstärkt wird.
Der im Werk behandelte Zeitraum vom Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ist überschaubar gewählt. Durch die insgesamt sieben Teilabschnitte wie etwa „Der Erste Weltkrieg“ oder „Europäische Expansion und Kolonialismus“ wird der behandelte Zeitrahmen grob untergliedert und strukturiert. Diese sieben Teile sind wiederum in zwei bis vier Kapitel aufgeteilt. Jeder der sieben Hauptteile wie auch jedes Teilkapitel beginnt mit einer Doppelseite. Diese Auftaktdoppelseiten sind durch eine großflächige Einfärbung leicht zu finden, was einer besseren Orientierung dient und den Schülerinnen und Schülern die Navigation durch das Buch erleichtert. Die Doppelseiten sind klar aufgebaut: Während auf der einen Seite eine Gliederung des Kapitels in die einzelnen Lektionen, ein kurzer, einleitender Autorentext und ein Zahlenstrahl mit den für den Abschnitt relevanten Daten präsentiert wird, zeigt die andere Hälfte der Doppelseite auf das jeweilige Thema bezogene Abbildungen.
Jede Lektion besteht wiederum aus einer Doppelseite. Auf der linken Seite befindet sich ein kurzer Autorentext, der eine Einführung in das Thema gibt. Dieser Text ist in der Regel leicht verständlich und sachlich formuliert. Positiv hervorzuheben ist, dass die Verfasser dieser Texte nicht wie üblich anonym bleiben, sondern dass im Inhaltsverzeichnis die Namen der für das jeweilige Kapitel verantwortliche Autoren erwähnt werden. Entscheidende Fachbegriffe der Texte sind nicht wie oft üblich fett formatiert, sondern wurden hellblau unterlegt, wodurch sie eingängiger wirken. Neben den Autorentexten findet sich stets eine ebenso hellblaue Box, in der diese Begriffe erläutert werden. Die rechte Hälfte der Doppelseite beinhaltet Bilder, Statistiken, Grafiken und Textquellen, anhand derer die Schülerinnen und Schüler das Thema der Lektion vertiefen und sich kritisch mit den Autorentexten auseinandersetzen können. Die Quellentexte sind dabei immer gelb unterlegt, die Arbeitsaufträge grün. Dies erleichtert die Abgrenzung zu den Autorentexten. Die verwendeten Grafiken und Karten sind übersichtlich und leicht verständlich gestaltet.
Zusätzlich zu den Lektionen finden sich in den Kapiteln insgesamt 51 Dossiers. Durch diese werden die Kapitel thematisch und inhaltlich ergänzt. Sie geben nicht nur zusätzliche Informationen zu bestimmten, meist sozialpolitisch orientierten Fragestellungen (z.B. „Die Rolle der Frau in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts“), vielmehr greifen sie auch für ein Geschichtsbuch außergewöhnliche Aspekte wie etwa Literatur, Kunst und Sport auf. Auch wird in diesen Dossiers mit Themen wie etwa die Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg oder die amerikanische „New Deal“-Politik über den eurozentrischen Tellerrand geblickt und somit auch dem Untertitel des Buches („Europa und die Welt“) Rechnung getragen.
Jeweils am Ende der sieben Hauptteile befindet sich unter der Überschrift „Bilanz“ eine Zusammenfassung der wichtigsten Daten sowie die jeweiligen Schlüsselbegriffe – inklusive ihrer französischen und englischen Übersetzung. Weiter befindet sich in der „Bilanz“ unter der Überschrift „Deutsch-Französischer Perspektivenwechsel“ noch eine Gegenüberstellung von Besonderheiten des deutschen bzw. des französischen Zugangs zu dem im vorangegangenen Hauptteil behandelten Zeitraum sowie entsprechende Quellentexte. Mit Hinweisen auf weiterführende Literatur, Ausstellungen, Websites und Filme schließt eine solche „Bilanz“.
Methodische Aspekte
Geschichtsbücher sollten den Schülerinnen und Schülern vielfältige Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung bieten. Dies gewährleistet, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, sich eigenständig Wissen anzueignen und dabei gleichzeitig angeregt werden, sich durch den kritischen Umgang mit diesen Informationen einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Aufgrund derartiger Überlegungen ist es sehr erfreulich, dass die Autoren des vorliegenden Schulbuchs den Schwerpunkt nicht auf umfangreiche Autorentexte legten, sondern die Arbeit mit Quellen in den Vordergrund stellten; so liegt das Verhältnis von Autorentexten zu Quellen bei 1:3. Anders als in vielen traditionellen Geschichtsbüchern bedeutet Quellenarbeit jedoch nicht primär die Arbeit mit Textquellen. Vielmehr bietet Histoire/Geschichte den Schülerinnen und Schülern zusätzlich umfangreiche Bildquellen, Kartenmaterialien und Grafiken zur Veranschaulichung und Erarbeitung von historischen Sachverhalten. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass sich die Schülerinnen und Schüler mittels vielfältiger Quellenarten auf sehr unterschiedliche Weise mit der Vergangenheit auseinandersetzen können. So wird die Beschäftigung mit Geschichte nicht nur vielseitiger erfahrbar, sondern es werden auf diese Art zudem unterschiedliche Lerntypen angesprochen.
Die notwendige Methodenkompetenz zur kritischen Auseinandersetzung mit den Arbeitsmaterialien, wie etwa die Interpretation von Statistiken, Text- und Bildquellen soll durch die insgesamt neun Methodenteile gefördert werden. Diese, jeweils ebenfalls aus einer Doppelseite bestehenden, Einschübe sollen beispielsweise dabei helfen, die Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, Textquellen kritisch zu analysieren, Archivquellen zu finden oder sogar, unter dem Schlagwort „Oral History“, Zeitzeugen zu befragen. Bemerkenswert ist, dass die Autoren es hierbei nicht bei der sonst üblichen theoretischen Erläuterung belassen, sondern anhand von Anwendungsbeispielen den Schülerinnen und Schülern einen Einblick in die Praxis der Arbeit eines Historikers ermöglichen. Derartige Propädeutik, die dazu beiträgt, dass sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig mit historischen Themen auseinandersetzen können, wird unterstützt durch einen umfangreichen Anhang. Ein gut strukturiertes Glossar, zahlreiche Kurzbiographien sowie eine Übersicht der geschichtswissenschaftlichen Arbeitsmethoden runden Histoire/Geschichte ab.
Fachdidaktische Aspekte
Didaktisch befindet sich Histoire/Geschichte weitestgehend auf der Höhe der Zeit. Bereits vom Grundsatz her ist Histoire/Geschichte mehrperspektivisch angelegt. Dies ist aufgrund der Tatsache, dass es aus der Kooperation zweier Länder entstanden ist, zwar durchaus zu erwarten, jedoch fällt besonders in den bereits oben erwähnten „Bilanzen“ auf, wie tief die multiperspektivische Vorgehensweise in Histoire / Geschichte verankert ist. So wird beispielsweise im Rahmen der Imperialismuspolitik um 1900 die koloniale Konkurrenz und das wechselseitige Unverständnis zwischen Deutschland und Frankreich anhand von Quellentexten präsentiert, die sowohl die deutsche als auch die französische Sichtweise widerspiegeln (S. 184). Zudem erläutert ein Autorentext nicht nur die historische Entwicklung der jeweiligen Länder-Perspektive, sondern führt auch in den aktuellen Forschungsstand bezüglich der länderspezifischen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit ein (S. 185).
Anhand des Umgangs mit teils kritischen Theorien zur „Erbfeindschaft“ oder zum „deutschen Sonderweg“ (S. 77) wird ferner deutlich, dass das vorliegende Werk beabsichtigt ein offenes Geschichtsbild zu vermitteln, das den Schülerinnen und Schüler aufzeigt, dass „Geschichte" immer eine Konstruktion der Vergangenheit, und es DIE Geschichte nicht gibt. Dieser offene Grundansatz wird nicht nur durch das gesamte Werk hindurch konsequent verfolgt, vielmehr werden die Schülerinnen und Schüler durch eingefügte „Historiographische Dossiers“ direkt zum kritischen Umgang mit der Geschichtsforschung ermuntert. So werden etwa unter der Überschrift „Im Blick des Historikers“ die Schülerinnen und Schüler dazu animiert, die Rolle Hitlers im Spiegel der Forschung anhand von Interviews mit drei bekannten Historikern (Kershaw, Bullock, Haffner) zu beurteilen.
Zum Teil scheinen die Autoren innerhalb dieser historiographischen Dossiers jedoch etwas übertrieben zu haben, so etwa wenn die Schülerinnen und Schüler die „Funktion der Kunstsprache ‚Neusprech’ (‚Newspeak’)“ in Orwells Oceania erläutern sollen (S. 293) – hier ist dann wohl doch eher der Literaturwissenschaftler als der Historiker gefragt. Andere aktuelle fachdidaktische Ansätze werden eher am Rande behandelt. So ist das weitgehende Fehlen eines personifizierenden wie auch eines gegenwarts- bzw. schülerbezogenen Ansatzes überaus bedauerlich. Hierbei lässt sich der fehlende Bezug auf die Gegenwart bzw. die Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler noch am ehesten verschmerzen. Zum einen, weil durch die intensive Behandlung von kunsthistorischen und medialen Aspekten in gewisser Hinsicht ein Bezug auf die Gegenwart und Schülerlebenswelt gegeben wird, zum anderen, weil sich die Frage stellt, inwieweit ein deutlicher Schülerbezug in der gymnasialen Oberstufe noch erforderlich ist. Neben dem oben bereits erwähnten multiperspektivischen Ansatz von Histoire/Geschichte sticht vor allem die Konzeption als problem- und handlungsorientiertes Arbeitsbuch hervor. So wird jede Lektion durch eine Frage eingeleitet, die sowohl das Thema der Lektion präzisiert, als auch auf grundsätzliche Probleme aufmerksam macht. Die Antwort auf diese Frage lässt sich in der Regel durch den Autorentext und das beigefügte Quellenmaterial erarbeiten.
Fazit
Wie bereits erwähnt, verzichteten die Verfasser weitgehend auf umfangreiche Autorentexte. Vielmehr steht die Arbeit mit Text- und Bildquellen sowie Grafiken eindeutig im Vordergrund. Auf diese Weise erhält Histoire/Geschichte mehr den Charakter eines Lern- und Arbeitsbuches, denn eines Lehr- und Lesebuches. Dies ist positiv hervorzuheben. Durch die integrierten Seiten zur Methodenschulung sowie den mehrperspektivisch-kontroversen Umgang mit dem vorhandenen Quellenmaterial gewinnt Histoire/Geschichte zusätzlich an (didaktischem) Wert. Die grundlegende Konzeption eines binationalen Geschichtslehrwerks ist insbesondere in Bezug auf die von zahlreichen Auseinandersetzungen geprägte Vergangenheit beider Staaten interessant und lobenswert; eine Verwendung im bilingualen Unterricht ist aufgrund der beigefügten CD-Rom gut möglich, jedoch nicht zwingend erforderlich.
Zunächst erschien es den Rezensenten fraglich, ob ein Lehrwerk, dass in einem solchen Umfang die deutsch-französische Geschichte thematisiert, auch für Schulen jenseits des deutsch-französischen Grenzgebiets empfehlenswert sei. Warum dies so ist, wird allerdings spätestens beim Betrachten des letzten Kapitels deutlich. In jenem Kapitel wird, losgelöst von der ansonsten chronologischen Vorgehensweise, noch einmal auf den gesamten behandelten Zeitraum zurückgeblickt. Es wird intensiv auf die deutsch-französische Entstehungsgeschichte des europäischen Gedankens eingegangen, also die bedeutende Rolle, die das Verhältnis beider Staaten bei der Entstehung des europäischen Bewusstseins spielte.
Überaus bedauerlich ist jedoch, dass die Herausgeber den Schwerpunkt des Buches lediglich auf Westeuropa gelegt haben – ein Konzept, dass mit dem Mauerfall eigentlich überwunden sein sollte. So wird zwar sowohl die stalinistische Diktatur als auch die sowjetische Gesellschaft behandelt, jedoch wird die Tatsache, dass Europa nicht an der Ostgrenze Deutschlands aufhört, stillschweigend übergangen. So stellt sich die Frage, ob Histoire/Geschichte wirklich ein europäisches Geschichtsbuch ist, ob der Untertitel „Europa und die Welt“ uneingeschränkt angemessen ist. Diese Frage muss man wohl im Hinblick auf das heutige Europa verneinen. Ein Europabild, wie es in Histoire/Geschichte vermittelt wird, mag es zwar zu Zeiten Kohls und Mitterrands Mitte der 1980er Jahre gegeben haben, ist jedoch spätestens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr zutreffend.
Dennoch vertreten wir zusammenfassend die Ansicht, dass mit Histoire/Geschichte ein neues Geschichtslehrwerk auf den Markt gebracht wurde, das trotz der oben genannten Mängel überzeugt. Dies liegt vor allem an seiner fachwissenschaftlichen, methodischen und didaktischen Qualität. Auch das Konzept eines supranationalen Geschichtsbuchs ist vorbildlich, jedoch müsste Histoire/Geschichte deutlich erweitert werden – nicht nur um einem Europabild des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, sondern auch um den europablauen Einband mit Recht tragen zu können.