Erdkunde, 7./8. Schuljahr, Gymnasium
Diercke – Geographie / Sachsen-Anhalt 7/8
Herausgegeben von | Protze, Notburga |
---|---|
Erschienen | Braunschweig: Westermann, 2009 |
Seitenanzahl | 256 |
ISBN | 978-3-14-144871-9 |
Geeignet für | Sachsen-Anhalt |
Rezensiert von | Bagoly-Simó, Péter (Wissenschaftler), 10. März 2011 |
Rezension von Bagoly-Simó, Péter (Wissenschaftler)
„Wäre es nicht langweilig, würde man überall gleich sprechen, essen, singen und tanzen? Ist [das Leben] nicht gerade wegen der vielfältigen Kulturen schön?“ (S. 8). Zwei Fragen, die sich die AutorInnen des Lehrwerkes für den Doppeljahrgang 7/8 an Gymnasien Sachsen-Anhalts auf der ersten Themenseite stellen. Jedoch wirft bereits das Titelblatt des Lehrbuchs eine weitere spannende Frage auf: Warum bauen asiatische Arbeiter einen Wolkenkratzer in einer Stadt, die ohne Zweifel an die großen urbanen Zentren des angelsächsischen Raumes erinnert? Wie kann und darf der Raum, die Lokalisierung und die Morphologie (um)gedeutet werden? Viele Fragen, die sich stellen, wenn der Leser/die Leserin den festen Einband mit dem üblichen blauen Westermann-Layout in der Hand hält.
Autorenkonzept
Nach dem ersten Eindruck stehen die LeserInnen vor der Herausforderung einer inhaltlichen und didaktischen Dekonstruktion des Lehrbuches. Leider verraten die AutorInnen nichts über sich als Person, ihr Grundkonzept oder ihre Zielsetzung, daher bilden die knappe Zeichenerklärung auf der Rückseite des Titelblattes und der Inhaltsverzeichnis die einzigen Anhaltspunkte.
„Kultur- und Naturräume der Erde“ ist die Überschrift des ersten Kapitels. Sie bietet Orientierung für weitere sechs Kapitel, die verschiedene Kulturräume der Erde behandeln (den russischen Kulturerdteil, Süd- und Ostasien, Südasien, den Orient, Schwarzafrika und Lateinamerika). Der an die Konzeption der Kulturerdteile angelehnte Leitfaden führt zu einer zusammenfassenden Darstellung der Thematik „Unsere Welt – ungleich entwickelt“ in einem abschließenden Kapitel. Schwer zu erklären ist die Positionierung eines weiteren thematischen Kapitels mit einem geologisch-geomorphologischen Schwerpunkt („Die Erde – ein unruhiger Planet“) zwischen zwei dem russischen Kulturerdteil sowie Ost- und Südostasien gewidmeten Einheiten. Auffällig ist die orthodoxe Umsetzung des Lehrplans in das Schulbuch, was die Entscheidung der AutorInnen für den regional-thematischen Ansatz als ein Amalgam des Konzeptes der Kulturerdteile (Newig 1998) und der Problemländerkunde (Birkenhauer 1982) erklären könnte.
Kern der einzelnen Kapitel bilden die drei bis neun Themenseiten, die ggf. durch ein Additum und eine oder mehrere Methodenseiten ergänzt werden. Abgesehen von den Zusammenfassungen („Das Wichtigste kurz gefasst“) und der Selbstkontrolle („Geo-Wissen – Teste dich selbst!“), bilden Doppelseiten den Grundbaustein des Schulbuches. Auftaktseiten präsentieren sich in der Regel als eine Sammlung von Fotos, die einen Einstieg in die physische und soziale Gegenwart, seltener aber auch Vergangenheit, des jeweiligen Kulturerdteils ermöglichen. Die Kernaussage der Themenseiten ist im Text kodiert, was eindeutig durch die Positionierung der Textteile in der Mitte zum Ausdruck kommt. Ergänzende Metatextbausteine, wie etwa Fotos, Grafiken, Karikaturen, Karten, Satelliten- und Luftbildaufnahmen, Infos oder Merksätze umgeben den Text von links, rechts und unten. Text und Metatext sind meistens logisch verknüpft, zusätzliche Informationen zu den meisten fett gedruckten Kernbegriffen der Texte sind im Minilexikon enthalten.
Autorentext und Materialien
Das Lehrbuch zeichnet ein anspruchsvoller Autorentext aus. Selbst wenn einige wahrscheinlich durch die Zusammenarbeit mehrerer AutorInnen entstandene Brüche die flüssige und konsequente inhaltliche Vermittlung manchmal unterbrechen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Text und Metatext ein altersangemessenes und verständliches Werk. Dies fällt vor allem bei solchen Themen angenehm auf, die für eine Realbegegnung ungeeignet sind. Die AutorInnen nutzen die Fachterminologie korrekt und konsequent, arbeiten aber mit verschiedenen Maßstäben der didaktischen Reduktion im Rahmen der unterschiedlichen Kapitel. So spiegelt sich im Kapitel über den russischen Kulturerdteil der aktuelle Forschungsstand wesentlich weniger wider, als es in den Kapiteln Orient oder Lateinamerika der Fall ist. Eine konsequente inhaltliche und förmliche Gestaltung zeichnet auch die Metatextelemente, wie etwa Klimadiagramme und Karten, aus und unterstützt dadurch den Lernprozess.
Ressourcen und ihre Nutzung bilden in jedem behandelten Kulturerdteil den Grundstein einer problematisierenden Fragestellung. Dabei achten die AutorInnen bewusst auf die Schilderung der Interessen und Meinungen von mehreren betroffenen Akteuren. Aber selbst wenn keine Werturteile im Lehrbuch vorzufinden sind, lässt sich doch eine abendländisch-eurozentrische Perspektive leicht identifizieren. Die mit der russischen Erdölförderung verbundenen ökologischen Probleme erscheinen zum Beispiel nicht eindeutig im Licht einer wachsenden Nachfrage des europäischen und globalen Energiemarktes, sondern werden eher auf die kurzfristigen regionalen und nationalen Gewinne Russlands zurückgeführt.
Zur kritischen Auseinandersetzung mit Prozessen der Natur und Gesellschaft tragen auch die vielen Metatextelemente des Lehrbuchs bei. Materialien über den Aralsee sowie den Tschadsee problematisieren zum Beispiel (trans)nationale Nutzungskonflikte früherer und gegenwärtiger Ressourcennutzung. Übungskarten tragen zur Entwicklung von Kompetenzen bei, während Momentaufnahmen oft einen (kritischen) Einblick in fremde Kulturen gewähren. Das Lehrbuch zeichnet sich also nicht nur durch die Vielfalt der Metatextelemente, sondern auch durch ihre gute Qualität und entsprechende didaktisch-methodische Erschließung aus.
Einen besonderen Beitrag zur Entwicklung von Fachkompetenzen leisten die über die neun Kapitel ungleichmäßig verteilten zehn Geo-Methoden. Möglichkeiten zur Einprägung und ggf. zum Transfer der neu erlernten Methoden sind im Lehrbuch leider nur sehr begrenzt enthalten, was aber wahrscheinlich durch die Aufgaben des Arbeitsheftes entsprechend ergänzt wird.
Von den Begleitmaterialien sind die wenigen aber besonders zuverlässigen Internet-Links zu erwähnen. Was bei der Behandlung der Kulturerdteile eine sparsame Plattform von Zusatzinformationen u. a. auf der Internetpräsenz des BMZ, der UNHCR, der Türkischen Botschaft in Berlin oder der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zu sein scheint, entwickelt sich zu einer lebens- und alltagsrelevanten ergänzenden Quelle der Lehrbuchinhalte über die Eine-Welt-Initiative und die Weltläden.
Text und Metatext dieses Lehrbuchs fordern vor allem zur Reflexion und eher weniger zur Handlung auf. Einige Themen, wie globale Verflechtungen, Entwicklungszusammenarbeit oder Nachhaltigkeit, durchdringen einzelne thematische Einheiten und kommen im Text, Metatext und Begleitmaterialien zum Ausdruck. Trotzdem zielt das Lehrbuch in der aktuellen Auflage noch nicht ausreichend auf das Affektive und Emotionale ab.
Aufgabenstellungen
Das Lehrwerk besteht aus einem Lehrbuch und einem Arbeitsheft. Das zur Verfügung gestellte Lehrbuch enthält dementsprechend lediglich einzelne Aufgaben, die wahrscheinlich von einer Vielzahl von Übungen und Aufgaben im Arbeitsheft ergänzt werden. Die meistens höchstens vier Fragen und Aufgaben begleiten den Text und Metatext der thematischen Doppelseiten des Lehrbuchs als farbig nummerierte Randelemente. Insgesamt 306 Nennungen von 59 Operatoren konnten in den Aufgaben identifiziert werden:
Operator Nennungshäufigkeit
beschreiben: 64
nennen: 30
erklären: 29
begründen: 23
erläutern: 21
vergleichen: 19
sich informieren: 12
suchen: 10
auswerten: 10
Die Operatoren der Aufgaben und die W-Fragen dienen vorrangig der Materialerschließung, zum Teil auch der Sicherung. Einige Übungen leiten eine kritische Auseinandersetzung mit Strukturen, Prozessen, Akteuren, sogar Methoden ein. Dabei ist ein Problematisierungszusammenhang als aufbauender Lösungsweg vor allem bei vorgeschlagenen Projekten und Gruppenarbeiten klar erkennbar.
Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte
Dem Ansatz der Problemländerkunde folgend bauen die AutorInnen ihr Konzept oft auf Konflikte in verschiedenen Kulturräumen der Erde auf. Physiogeographische Kenntnisse erläutern dabei die genetischen Bedingungen von Strukturen und Prozessen, wodurch auch eine zeitliche Entwicklungsperspektive integriert wird, jedoch liegt der Schwerpunkt eindeutig im humangeographischen Bereich. Ressourcen und Muster ihrer Nutzung in der Vergangenheit sowie unter dem wachsenden Bevölkerungs- und Globalisierungsdruck der Gegenwart bilden die Kernprobleme vieler behandelter Themen in verschiedenen Kulturräumen. Die häufige Behandlung von Naturkatastrophen lässt eine geodeterministische Perspektive vermuten.
Selbst wenn keine expliziten Werturteile ausgesprochen werden, erscheint die Verantwortung europäischer Kolonialmächte in einer etwas unausgewogenen Darstellung. Wird bei der Vorstellung Lateinamerikas eindeutig auf die Zerstörung der indigenen Hochkulturen durch spanische und portugiesische Konquistadoren hingewiesen, so ist die Verantwortung an den Entwicklungen in Afrika nicht eindeutig auf Akteure oder Kolonialmächte übertragen. Eine Differenzierung ist anhand der Kolonialgeschichte oder der gegenwärtigen wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen zwischen (ehemaligen) Kolonien und „Mutterländern“ durchaus berechtigt und möglich, jedoch bieten die AutorInnen weder direkt in einer Darstellung des Konzeptes noch indirekt in der rezensierten Auflage des Lehrbuchs eine plausible und wissenschaftlich fundierte Erklärung hierfür.
An diesem Punkt lässt sich auch an die ungleichmäßige Einbettung der mehrmals angesprochenen „Zweiten Welt“ in die globalen Prozesse anknüpfen. Religion und Kultur dienen bei etlichen Kulturerdteilen (etwa Orient oder Südasien) als erklärender Rahmen für noch fremde Kulturen. Dies trifft leider beim russischen Kulturerdteil sowie teilweise bei Ost- und Südostasien weniger zu. Ohne den gemeinsamen Rahmen der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte könnte es schwierig sein, den Reformkommunismus Chinas oder die relative Kohäsion in Osteuropa zu erklären. Die AutorInnen widmen der (geographischen) Transformationsforschung eindeutig weniger Aufmerksamkeit, was sich auch teilweise aus der benutzten Fachterminologie ablesen lässt. Es ist völlig berechtigt, von der Annahme auszugehen, dass die SchülerInnen aus Sachsen-Anhalt in ihrem Alltag mit der postsozialistischen Transformation (selbst wenn die neuen Bundesländer einen Sonderfall darstellen) nicht mehr konfrontiert werden, jedoch fehlt leider auch an dieser Stelle eine eindeutige Stellungnahme der AutorInnen, die eine Alternative zu den Ergebnissen der Fachwissenschaft darstellen würde, oder diesen gar widersprechen würde.
Trotz kleiner Fehler, wie die Lokalisierung des Panamakanals in der mexikanischen Landenge von Tehuantepec (S. 208), eine etwas wirre Verwendung der Begriffe Nord-, Süd-, Latein- und Angloamerika (u. a. S. 208) oder die Einführung von mindestens vier Bezeichnungen für den Ostafrikanischen Graben (u. a. S. 63 und 75), haben die AutorInnen ein fachwissenschaftlich fundiertes und anspruchsvolles Werk verfasst, das eine Vielzahl von Ergebnissen der geographischen Teildisziplinen berücksichtigt.
Das Lehrbuch zeichnet sich eher durch Frage- und Problemorientierung als durch Handlungsorientierung aus. Dies zeigt sich nicht nur in den Themen der nachhaltigen Entwicklung, wie z. B. Umgang mit Ressourcen, Tragfähigkeit eines Raumes oder globale Verflechtungen, sondern auch in der Vielzahl der berücksichtigten und vorgestellten Perspektiven aus Wissenschaft, Politik und Alltag, welche die Dialog-, Toleranz- und sogar Empathiefähigkeit fördern. Selbst wenn an etlichen Stellen klargestellt wird, dass viele globale Probleme und Prozesse den Alltag der SchülerInnen in Deutschland aktuell prägen und in der Zukunft noch stärker prägen werden, könnte ein stärkeres und konsequentes Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Staaten und ihren entsprechenden Kulturerdteilen auf den verschiedenen Maßstabebenen das vorliegende Potential des Lehrbuchs weiter stärken.
Fazit
Das Lehrbuch für den Doppeljahrgang 7/8 der Gymnasien in Sachsen-Anhalt zeigt eine Vielfalt von Kulturen auf und überzeugt von der Langweiligkeit einer homogenen Kultur. Gegenwärtige Strukturen und Prozesse der Natur und Gesellschaft werden in einer zeitlichen Perspektive kausal erklärt, jedoch zwischen den Kulturerdteilen nur relativ selten miteinander verflochten. Das Lehrbuch verdeutlicht nicht nur durch Text, Metatext und Aufgabenstellung, sondern bietet den SchülerInnen die Möglichkeit, ihr individuelles geographisches Methodeninstrumentarium zu ergänzen. Neben einem eindeutigen Beitrag zur Förderung der Problemlösekompetenz vermittelt das Werk auch ein „traditionelles“ geographisches Basiswissen, was trotz seiner immer deutlicheren Verbannung aus den klassischen Medien, zu den Grundaufgaben der geographischen Bildung gehört.