Geschichte, 9./10. Schuljahr, Realschule
Geschichte konkret 3
Herausgegeben von | Hatscher, Christoph R. et al. |
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Erschienen | Braunschweig: Schroedel, 2006 |
Seitenanzahl | 304 |
ISBN | 978-3-507-35557-6 |
Geeignet für | Baden-Württemberg |
Rezensiert von | Fischer, Carmen (Wissenschaftlerin), 25. Januar 2011 |
Rezension von Fischer, Carmen (Wissenschaftlerin)
Konkret werden
„Ein Gruß aus Großdeutschland. Ich lebe hier sehr gut, wir werden von viel Kultur umgeben und ich langweile mich hier auch nicht. Nach Möglichkeit komme zu uns.“ So oder ähnlich unverfänglich dürfte mancher Brief ukrainischer Zwangsarbeiter in NS-Deutschland gelautet haben. Unverfänglich, weil Briefeschreiben gefährlich war und man häufig einen Verschlüsselungscode verwendete, der die Adressaten anhielt, den Brief als verschlüsselte Botschaft zu lesen. So informiert der „Gruß aus Großdeutschland“, dass das Leben sehr schlecht zu bewerkstelligen ist (= „Ich lebe hier sehr gut“), Schläge an der Tagesordnung sind (= „Wir werden von viel Kultur umgeben“) und man rund um die Uhr bewacht wird (= „ich langweile mich hier auch nicht“). Am Ende eine Warnung: Sieh zu, dass du nicht hierher zu kommen brauchst (= „Nach Möglichkeit komme zu uns“). Als dieser Code 1942 entdeckt wurde, setzte man sofort eine umfassende Postüberwachung hinsichtlich versteckter Botschaften an.
Im Lern- und Arbeitsbuch „Geschichte konkret 3“ wird Geschichte anhand von abwechslungsreichen Quellen wie der Meldung eines SS-Obersturmbannführers an die Sicherheitspolizei (S. 123) für Schüler „konkret“ erfahrbar. Das Lehrwerk richtet sich nach den Vorgaben des Kerncurriculums an die Realschulklassen 9/10 in Baden-Württemberg. Zum Zeitpunkt der Rezension (Dezember 2010) sind für die Schülerbände 1 (Klassen 5/6), 2 (Klassen 7/8) und 3 (Klassen 9/10) erschienen, zu jedem Band zusätzlich eine Lehrerausgabe mit ergänzenden Materialien. Dieser Rezension liegt der Schülerband 3 zugrunde.
Einleitende Gedanken
Das Fach Geschichte ist ein Denkfach. Im Idealfall vermittelt Geschichte nicht nur Faktenwissen, sondern historisches Bewusstsein zusammen mit fachspezifischer und fachübergreifender Methodenkompetenz. Ein Lehrbuch sollte ein breites Spektrum an Methoden vorweisen und Schülerinnen und Schüler zum Denken, kritischen Hinterfragen und Beurteilen anregen. Daher sollte das Augenmerk stets auf das Wissen sowie die heutige und künftige gesellschaftliche Position der Schüler gerichtet sein.
Buchaufbau und Autorentext
Das Anliegen der Autoren, stets einen Gegenwartsbezug herzustellen, zeigt sich bereits am Einband: Links ist ein Ausschnitt des Triptychons „Großstadt“ von Otto Dix abgebildet, auf der rechten Seite überlappt von Jugendlichen, die ausgelassen die Hände zum Himmel strecken. Zwei Zeitleisten verbinden die Feierszenen aus Vergangenheit und Gegenwart. Durch die Rot- und Orangetöne der Bilder und das blaue Cover entsteht ein stimmiges Gesamtbild.
Im Vorwort stellen die Autoren kurz Konzept und Buchaufbau in schülergerechter Sprache vor, die sich durch das gesamte Buch zieht. Erläutert wird etwa das „Lexikon“, das schwierige oder wichtige unbekannte Begriffe kurz und prägnant in der Randspalte erklärt. Der Buchaufbau in neun Hauptkapitel ist sehr übersichtlich, die Kapitelstrukturen stringent durchgehalten. Die Hauptkapitel gliedern sich in bis zu sechs Unterkapitel, die weitere Teilaspekte behandeln. Jedes neue Hauptkapitel beginnt mit zwei aufwändig gestalteten Auftaktseiten mit hinführendem Autorentext und ersten Aufgaben. Das Kapitel „Nationen und Nationalstaaten bilden sich“ ist etwa durch den Druck „Der Traum von der weltweiten demokratischen und sozialen Republik“ (1848) des französischen Künstlers Frédéric Sorrieu eingeleitet. Jedes Thema wird auf einer Doppelseite behandelt, wovon ungefähr eine Seite auf den Autorentext entfällt und der Rest Quellen und Zusatzmaterialien gewidmet ist. Beim Layout steht dankenswerterweise die Funktion im Mittelpunkt, daher sind Quellentexte, motivierende Leitfragen und neue Aufgaben einheitlich farblich hervorgehoben.
Didaktisch wertvoll ist die Vorgehensweise der Autoren, jedem Thema eine übergeordnete Leitfrage voranzustellen. In jedem Kapitel finden sich kleine Exkurse unter dem Stichwort „konkret“, etwa Lebensgeschichten wie die des Medizinnobelpreisträgers Emil von Behring oder Claus von Stauffenbergs. Das Kapitelende führt in Arbeitstechniken ein (Protokollieren, Vortrag halten, Strukturskizzen gestalten etc.), auf die schon im Kapitel abgezielt wurde. Es folgen eine knappe, aber gut formulierte Zusammenfassung sowie die für diese Reihe neu entwickelten Seiten „Üben-testen-anwenden“. Laut den Autoren sollen Schülerinnen und Schüler mit diesen Seiten überprüfen können, ob sie den Stoff bereits beherrschen. Im Kapitel „Das deutsche Kaiserreich“ werden beispielsweise die wichtigsten Daten mit Stichworten aufgeführt und drei Selbsttests an Quellen angeboten: Schriftliche Quellen stellen die Reichsgründung aus drei Perspektiven dar, außerdem sollen eine Bismarck-Karikatur und ein historisches Foto Wilhelms II. auf dem Münchner Kaisertag 1909 interpretiert werden. Trotz des guten Grundgedankens sind diese Seiten zur reinen Selbstkontrolle der Schülerinnen und Schüler nur bedingt zu empfehlen, da kein Lösungsschlüssel bzw. Erwartungshorizont vorhanden ist. Die Besprechung der Aufgaben im Unterricht ist daher unabdingbar, aber auch eine gute Wiederholung am Ende einer Unterrichtseinheit.
Das zusätzliche Kapitel „Geschichte im Längsschnitt“ stellt den im Bildungsplan für die Realschule geforderten längsschnittartigen Ansatz in sieben Themengebieten – von Lebens- und Wirtschaftsformen über Staatenbildung bis zur europäischen Union – informativ und attraktiv dar. Der Anhang besteht aus einem Text- und Bildquellenverzeichnis, Worterklärungen, einem Personen- und Sachverzeichnis sowie einem Methodenglossar.
Die Autorentexte sind klar und verständlich geschrieben. Es wurde Wert auf eine altersgerechte Sprache und kurze Sätze gelegt. Schwierige oder unbekannte Wörter sind im „Lexikon“ in der Randspalte kurz und prägnant erklärt. Nicht nur im Unterkapitel „Globale Konflikte“ wurde auf eine neutrale Darstellung im Autorentext geachtet. Kontroversen werden in Quellen dargelegt, so etwa die amerikanische Kriegsführung im Vietnam-Krieg (S. 189), bei der Vertreter beider Seiten zu Wort kommen. Da die vergleichende Quellenarbeit oft als Partnerarbeit konzipiert ist, wird zur Toleranz gegenüber konkurrierenden Standpunkten angeleitet.
Arbeit mit Textquellen und Bildmaterial
Die zahlreichen Textquellen sind mit Bedacht ausgewählt worden. Ein breites Spektrum an Quellengattungen (offizielle Dokumente, Gedichte oder Briefe) garantiert einen abwechslungsreichen Unterricht, bei dem eigene Schwerpunktsetzungen möglich sind. Die Rubrik „Quellen kontrovers“ führt Schülerinnen und Schüler an das kritische Hinterfragen der vorliegenden Quellen heran, etwa die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei mit Texten des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt und Faruk Sens, ehemaliger Vorsitzender des Zentrums für Türkeistudien in Essen (S. 255). Bei dieser Rubrik zielen die Arbeitsaufträge überwiegend auf Diskussionen im Klassenverband ab. Schade, dass oft auf weiterführende Informationen z.B. zu den Autoren, verzichtet wurde, und den Schülerinnen und Schülern damit wichtige Informationen, die zum Verständnis der Quellen benötigt werden, vorenthalten werden.
Ebenso vielfältig wie die Textquellen wird auch das Bildmaterial präsentiert. Allerdings sind hier ausreichende Informationen zu Quelle, Künstler und Epoche bzw. Kunstrichtung vorhanden. Auch in der Rubrik „Historiker bei der Arbeit“ liegt ein Schwerpunkt auf der Analyse von Bildmaterial, das von Karikaturen über Allegorien bis hin zu Plakaten reicht. Recht gelungen ist die „Propagandafotographie im Nationalsozialismus“ (S. 110): Nach einer kurzen Einführung in Thematik und Problematik werden vier Bildpaare vorgestellt, die verdeutlichen, wie Retuschieren, Nachinszenieren, Bildausschnitte und Perspektivenwechsel die Wirklichkeit gekonnt verfälschen können. Nicht nur in diesem Kapitel ist das Bildmaterial in das Konzept der Multiperspektivität eingepasst, um Kompetenzen ideologisch-einseitiger Bildinhalte zu vermitteln.
Als positiv ist zu verzeichnen, dass das schon vom Einband bekannte Triptychon „Großstadt“ auch im Buch wieder aufgegriffen wird und als Aufmacher (S. 78/79) für das Hauptkapitel „Weimarer Republik“ dient. In „Geschichte konkret 3“ ergänzen sich Autorentext, Textmaterial und auch Bildmaterial bestens.
Aufgabenstellungen
Die Aufgabenstellungen, für rekapitulierende Fragen bezüglich des Autorentexts und zum Quellenmaterial, sind präzise gestellt, in der Schwierigkeit gestaffelt und aufeinander bezogen. Fragen zum Quellenmaterial arbeiten mit den gängigen Operatoren und sind größtenteils im Schwierigkeitsgrad angemessen, wenn eine intensive Beschäftigung mit der Quelle vorausging.
Bei vielen Aufgaben werden kreative Schreibtechniken, wohl als fachübergreifende Kompetenz, in den Mittelpunkt gerückt. Die Schülerinnen und Schüler werden angehalten, zu einem aus dem Kapitel bekannten Bild eine Geschichte zu erzählen oder Gefühle und Empfindungen der fotografierten Person nachzuzeichnen.
Leider ist im Buch kaum weiterführende altersgemäße Sekundärliteratur angegeben, die über die Kapitel hinausgeht. Lediglich bei der Kapitelzusammenfassung finden sich einige Buch- oder Filmtipps, wie etwa Lutz van Dijks „Die Geschichte Afrikas“ (S. 75) oder der Kinofilm „Sophie Scholl“ (S. 151).
Einige Aufgabenstellungen zielen darauf ab, im Fach Geschichte einen Teil der Informationstechnischen Grundausbildung (ITG) zu absolvieren. Die Aufgabenstellungen im ersten Kapitel fördern die Recherchekompetenz im Internet und die Bewertung des aufgefundenen Materials, später geht es um die Aufbereitung und Präsentation von Daten und Fakten, etwa mit Hilfe des Office-Pakets.
Detailanalyse: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Ausgrenzung – Verfolgung – Ermordung: Die nationalsozialistische Rassenideologi
Die Doppelseite (S. 126/127) wird eingeleitet mit der Hauptfrage „Wer wird ausgegrenzt?“. Anschaulich wird anhand der Lebensgeschichte Paul Hans Franks gezeigt, wie das Euthanasieprogramm im NS-Staat funktionierte. Nach der Einführung folgen Autorentexte über die Ziele der NS-Rassenpolitik, Zwangssterilisierungen und Ermordungen. Als Quellen dienen ein offizieller Brief, in dem den Angehörigen unter Verschleierung der wahren Umstände Paul Hans’ Tod mitgeteilt wurde sowie ein gekürzter Zeitungsausschnitt von 1995, der die späte Reue der Ärzte thematisiert. Die fünf Arbeitsaufgaben sind in die Autorentexte eingegliedert und in der Schwierigkeit gestaffelt. Fordert die erste Aufgabe eine kurze Rekapitulation des Gelesenen, spannt die zweite Aufgabe „Nennt heute geltende Grundrechte, gegen die die NS-Rassenlehre verstieß“ einen Bogen zur Gegenwart und fördert kritisches Hinterfragen.
Ein Desiderat bleibt, dass nicht nur die deutsche Rassenpolitik in ihrer Extremform beleuchtet wird, sondern die Gesellschaftspolitik der europäischen Nachbarn mit einbezogen wird. Da aber in anderen Kapiteln, wie zum Beispiel zum Imperialismus, deutlich ein Blick über den Lehrplanrand geworfen wird (der erste Genozid im 20. Jahrhundert an den Herero und Nama im heutigen Namibia, S. 57), kann darüber hinweggesehen werden.
Fachdidaktische Positionen
Betrachtet man Autorentexte, Textquellen, Bildmaterialien und Aufgabenstellungen, stellt man fest, dass die üblichen fachdidaktischen Positionen berücksichtigt werden. Das Buch bietet ein breites Spektrum an abwechslungsreichen Unterrichtskonzepten, da die Aufgabenstellungen Urteilsvermögen und Kreativität der Schüler fördern und an ihre Lebenswelten anknüpfen.
Die Kernkompetenzen, die laut Bildungsplan in der 9. und 10. Klasse vermittelt werden sollen, können die Schülerinnen und Schüler mithilfe des Lehrwerks erwerben, etwa einfache und auch komplexe Quellen zu bearbeiten, zu interpretieren und zu präsentieren.
Fachwissenschaft
Vorherrschend sind im Buch, wie angesichts der Bildungsstandards nicht anders zu erwarten, Politik- und Ereignisgeschichte. Weitere zentrale Aspekte der Geschichtswissenschaft werden jedoch ebenso berücksichtigt, was Geschichte „konkret“ werden lässt: Alltagsleben und Wirtschaft (Längsschnitt „Lebens- und Wirtschaftsformen in der Vergangenheit“, S. 272-275), Verfassungsgeschichte und Politik („Aufbau von Staaten“, S. 276-279), Geschlechtergeschichte („Wer war Bertha von Suttner?“ S. 61, „Frauen im Nationalsozialismus“ S. 116) oder Wissenschaftsgeschichte („Wer war Emil von Behring?“ S. 43), um nur einige zu nennen. Zur Alltagsgeschichte macht die Rubrik „Arbeitstechnik“ (S. 174) den Vorschlag, eine Ausstellung mit Gegenständen aus der Nachkriegszeit zu organisieren. Eine interessante Idee, die allerdings aus Zeitmangel wohl kaum in den regulären Unterricht mit einbezogen werden kann, sondern eher für Projekttage geeignet zu sein scheint.
Fazit
Positive Aspekte im Lehrwerk „Geschichte konkret 3“ sind die klare Kapitelstruktur und die abwechslungsreiche Quellenauswahl. Das ansprechende Layout, motivierende Aufgaben und die zahlreichen Bild- und Textquellen schaffen eine gute Grundlage, dass Schülerinnen und Schüler ihre bisherigen Kenntnisse und Kompetenzen im Fach Geschichte erweitern. Die zahlreichen Informationen bieten die Möglichkeit zur eigenen Schwerpunktsetzung im Unterricht. Ebenfalls positiv ist, dass bei vielen Arbeitsaufgaben Wert auf einen Gegenwartsbezug gelegt wurde. Kritisch anzumerken bleibt, dass zu wenig weiterführende Lesetipps aufgelistet sind. Trotz dieser und den oben genannten kleineren Schwächen ist „Geschichte konkret 3“ insgesamt ein gelungenes Lehrwerk, das den Anforderungen des Kerncurriculums voll entspricht.