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Geschichte, Oberstufe, Gymnasium

Horizonte I: Geschichte für die Oberstufe

Horizonte I: Geschichte für die Oberstufe
Herausgegeben von Bahr, Frank et al.
Erschienen Braunschweig: Westermann, 2003
Seitenanzahl 456
ISBN 978-3-14-110933-7
Geeignet für Baden-Württemberg
Rezensiert von Fischer, Carmen (Wissenschaftlerinnen), 21. Juli 2011

Rezension von Fischer, Carmen (Wissenschaftlerinnen)


Wir sind, was wir geworden sind
Warum feiern wir am 3. Oktober den „Tag der deutschen Einheit“? Warum wurde nicht der Tag der Maueröffnung, der 9. November, dazu auserkoren, Nationalfeiertag des wiedervereinten Deutschlands zu sein? Die Antwort liefert ein Blick in die (Ereignis-) Geschichte:

9. November 1918 Novemberrevolution
9. November 1923 Hitler-Ludendorf-Putsch in München
9. November 1938 Reichskristallnacht
9. November 1989 Öffnung der Mauer

Erst die Freilegung der historischen Schichten macht deutlich, dass der 9. November politisch vorbelastet und damit aufgeladen ist. Dies bekam 2007 nicht nur der damalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, Günther Oettinger, zu spüren, als der Stuttgarter Landespresseball für den 9. November geplant war und schließlich auf Druck der Öffentlichkeit als Galaabend ohne Tanz stattfand.
Der 9. November wird im Geschichtsunterricht leider häufig ohne Reflexion als „Eselsbrücke“ eingesetzt, um konkrete Daten zu memorieren, abzufragen und damit Ereignisse in eine direkte Beziehung zueinander zu setzen, die es so nicht gibt. Das Lern- und Arbeitsbuch „Horizonte“ illustriert hingegen, wie die Häufung historischer Ereignisse an einem Datum im Unterricht einzusetzen ist: Als Erinnerung daran, dass die Vergangenheit ständig in die Gegenwart einwirkt.
Das Lern- und Arbeitsbuch „Horizonte“ legt nach Angaben der Autoren „Horizonte des Vergangenen aus der Perspektive der Gegenwart“ frei (Vorwort). Die beiden Bände des Lehrwerks richten sich nach den Vorgaben des Kerncurriculums an die Sekundarstufe II Gymnasium in Baden-Württemberg. Zum Zeitpunkt der Rezension (März 2011) sind für die Oberstufe zwei Bände erschienen.
Diese Besprechung bezieht sich, soweit nicht anders angegeben, auf Band I, der den Zeitraum von der Amerikanischen Revolution bis zum Nationalsozialismus umfasst. Band II beschäftigt sich mit Deutschland von 1945-1989 und betrachtet in den drei weiteren Kapiteln dem Curriculum entsprechend „Brennpunkte und Entwicklungen der Gegenwart in historischer Perspektive“, etwa die Geschichte Chinas oder den Weg in das Vereinte Europa, der bis ins 21. Jahrhundert beleuchtet wird.

Buchaufbau und Autorentext
Der Bucheinband ist in einem dunklen Blau gehalten, drei in beige- und Sandtönen gehaltene Abbildungen durchbrechen den Farbverlauf. Sie sollen wohl auflockern, lassen den Einband jedoch insgesamt eher noch nüchterner erscheinen. Das Corporate Design wird auch in Band II eingehalten, der dasselbe Layout in grüner Farbe aufweist und ebenfalls mit drei Bildern „aufgelockert“ wurde.
Der Blick in die Bücher verdeutlicht, dass auch das Layout lediglich dem Zweck und nicht unbedingt der Form dient. Insgesamt ist das Buch sehr textlastig, auf einer Doppelseite Autorentext findet sich teilweise nur eine Abbildung (Band I, S. 70f., S. 80f., S. 190f.). Die Übersichtlichkeit ist jedoch durch die Marginalspalte gewährleistet, die mit den wichtigsten Stichwörtern den Autorentextes extern strukturiert. Im Kapitel „Funktionsweise der präsidentiellen Regierungssystems“ zur Geschichte der USA etwa „Checks and balances“, „Parteien“ und „Wahlen“.
„Horizonte“ besteht aus dreizehn Unterkapiteln, die nicht stringent chronologisch geordnet sind. Darunter ein Kapitel mit Projektvorschlägen sowie der Exkurs „Mensch und Umwelt“. Unklar ist, warum das dritte Kapitel „Die Sowjetunion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den Kapiteln zu Restauration und Vormärz angesiedelt ist.
Im Vorwort stellen die Autoren Konzeption und Zielsetzung ihres Lern- und Arbeitsbuches vor. Hauptanliegen ist es, durch Multiperspektivität die Schülerinnen und Schüler anzuleiten und Interdependenzen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und ideeller Faktoren zu erkennen. Berücksichtigt werden bei den Quellen nicht nur klassische „historische“ Quellen und Texte, sondern es werden auch Materialien herangezogen, die aus der Politikwissenschaft, Ökonomie, Sozialgeschichte, Ökologie, Kultur-, Mentalitäts- und Frauengeschichte u.a. stammen. Ein gelungenes Beispiel für die Verbindung einiger dieser Perspektiven findet sich in den Materialseiten zum Kapitel „Die Sowjetunion (…) „ (S. 84ff.), in der auch Lenins bekannte Gleichung „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ zu finden ist.
Das Auftaktkapitel des Buches „Einführung in die Geschichte“ besteht aus einer sehr interessante Einführung in die Geschichtswissenschaft, die die Arbeit des Historikers vorstellt und Formen historischer Darstellung behandelt. Meines Erachtens ist dieses Kapitel insbesondere für diejenigen Schülerinnen und Schüler sinnvoll, die ein geisteswissenschaftliches Studium anstreben. Es werden die strukturgeschichtlichen Annäherungen der Annales vorgestellt oder historische Kontroversen, wie die um die Wehrmachtausstellung von 1995 des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Das mitten im Buch angesiedelte Kapitel „Projektvorschläge“ ist farblich vom restlichen Teil des Buches abgehoben und in zartem Grün gehalten. Vorschläge werden unter anderem zu den Themen „Die Familie in der Neuzeit“, „Menschenrechte“ und „Der Kampf um die Rechte der Frau“ gemacht. Damit werden den Schülerinnen und Schülern im Neigungsfach Geschichte interessante Projekte angeboten, die den Vorgaben der Bildungsstandards entsprechen. Nach einer kurzen Einführung in die Problematik werden Materialien zur Verfügung gestellt und durch weiterführende Literaturhinweise ergänzt. Zu bemängeln ist hier lediglich die Positionierung des Kapitels im Buch. Passender wäre gewesen, die Projektvorschläge den eigentlichen Lernkapiteln voran- oder nachzustellen.
Jedes Einzelkapitel beginnt mit einer Auftaktseite, bestehend aus einer großformatigen Abbildung und einer Kapitelzusammenfassung, Anekdote oder einer Themenhinführung. Besonders eindrucksvoll ist der Kapitelbeginn zu „Die Sowjetunion“. Die Erzählung des Schweizer Diplomaten Tim Guldiman stellt die wechselvolle Geschichte Russlands anhand des fiktiven Dorfes „Tsélaja-Rossija“ dar. Am Ende der Erzählung steht der Hinweis, alle Zahlenangaben der Verstorbenen, Verhafteten, Verhungerten mit einer Million zu multiplizieren, um die Geschichte „ganz Russlands“ zu erhalten.
Die Unterkapitel gliedern sich in einen Darstellungsteil, der mit einer Chronologie endet, und einem Materialteil mit Texten, Statistiken, Karten, Bildern und Karikaturen. Der Darstellungsteil und die darin eingebundenen Materialen ergänzen sich und dienen der weiteren Veranschaulichung, etwa der Zusammensetzung der Frankfurter Paulskirche (S. 169) oder eines Fotos einer im Text angesprochenen Persönlichkeit wie Zar Nikolaus I (S. 71). Ergänzt wird jedes Hauptkapitel durch die didaktisch wertvollen, problematisierenden „Fragen an die Geschichte“, die zum Beispiel in Kapitel 12 „Die Weimarer Republik“ der Frage nachgehen, ob die deutsch-französische Erbfeindschaft der Wahrheit entspricht oder doch im Reich der Legenden anzusiedeln ist.
Der neutrale, schülergerechte Autorentext legt Wert darauf, neue Begriffe umfassend einzuführen. Ein Beispiel dafür ist etwa im Kapitel „Imperialismus“ zu finden, in dem zunächst die lateinische Herkunft des Wortes „Imperialismus“ geklärt wird, um anschließend die Bedeutungsbreite des Begriffes darzustellen (S. 268).

Text- und Bildquellen
Das Quellenmaterial im Buch ist abwechslungsreich und motivierend. Schriftliche Quellen wechseln sich stets mit Abbildungen, Kartenmaterial und Darstellungen ab. Zu bemängeln ist allerdings, dass nicht deutlich zwischen Primärquellen und wissenschaftlichen Sekundärtexten unterschieden wird und alles unter dem Stichwort „Material“ versammelt wird, John Robert Seeleys „Die Ausbreitung Englands“ und Hans-Ulrich Wehlers „Bismarck und der Imperialismus“ werden ohne weitere Differenzierungen den Schülerinnen und Schülern als weiterführende Materialien angeboten.
Die Bildquellen sind in ausreichender Größe und guter bis sehr guter Qualität abgedruckt und variieren von graphischen Darstellungen, Karikaturen, Flugblättern, Plakaten, Gemälden und Fotografien. Sehr gelungen ist in Kapitel 9 „Das deutsche Kaiserreich“ die Darstellung der Gesellschaft des Wilhelminischen Reiches (S. 247): In Anlehnung an die Bolte-Zwiebel und in Form der Kaiserkrone wird grafisch die Schichtung der Gesellschaft aufgezeigt. Im dazugehörigen Material 4 wird die Darstellung nochmals thematisiert und weiter erläutert.
Sehr nützlich ist weiter das Kapitel „Arbeitstechniken und Methoden“, das auf 16 Seiten den Schülerinnen und Schülern die wichtigsten Quellenarten strukturiert vorstellt. Zu jedem Quellentypus werden Leifragen präsentiert, mit deren Hilfe die Schüler anschließend die Quelle „abarbeiten“ können, sowie eine Beispielinterpretation der Quellenart. Mit diesen Seiten erwerben die Schülerinnen und Schüler wertvolle Methodenkompetenzen, die auch in anderen Fächern von Nutzen sein können, etwa die Erschließung und kritische Hinterfragung von Texten, Statistiken und Kartenmaterial.

Neue Medien
Ein leidiges Thema scheint in vielen Unterrichtswerken die Einbindung der Neuen Medien zu sein. Auch „Horizonte“ verweist auf die schon im Erscheinungsjahr 2003 veralteten Suchmaschinen „Altavista“ und „Northernlight“ und bietet lediglich eine halbherzige Linksammlung zu den Bereichen „Geschichte“ und „Lexika“ an. Dem Dilemma „statisches Druckerzeugnis vs. dynamisches Webwissen“ könnte durch eine kontinuierlich aktualisierte Homepage Abhilfe geschaffen werden.

Aufgabenstellung
Im Gegensatz zu anderen Geschichtsbüchern folgen in „Horizonte“ die Aufgabenstellungen nicht direkt dem Arbeitsmaterial, sondern sind am Ende der Materialsammlung aufgeführt. Positiv zu vermerken ist, dass für eine Frage meist mehrere Materialien miteinbezogen werden sollen, was das kritische Hinterfragen einer Quelle bei den Schülerinnen und Schülern fördert und zeigt, dass die „historische Wahrheit“ aus mehreren Facetten besteht.
Leider ist es ein Hauptpunkt im Konzept des Buches, auf eine bewusste detaillierte und hierarchisierende Formulierung der Arbeitshinweise zu verzichten, um „den unterrichtlichen Spielraum nicht unnötig einzuengen“ (Vorwort). Auch wenn eine Quelle in mehreren Aufgabenstellungen miteinbezogen wird, das Potential der Quelle wird nicht ganz ausgeschöpft. So etwa in Material 3, Kapitel 13 „Der Nationalsozialismus“, in dem eine Bildfolge des satirischen Blattes „Kladderadatsch“ mit dem Titel „Der Edelkommunist im Konzentrationslager“ von 1933 (S. 370) zur Interpretation gestellt wird.
Positiv ist, dass im Anhang zu jedem Kapitel weiterführende Literatur aufgelistet ist, die die Möglichkeit zur weiteren Vertiefung bietet und der Sekundarstufe II angemessen ist. Durch die Literaturhinweise werden nicht nur Referate und Facharbeiten erleichtert, sondern auch die gezielte, selbständige Vorbereitung, etwa aufs Abitur, gefördert.

Fachdidaktische Positionen und Aktualität
Vorherrschend im Buch sind, lehrplankonform, Politik- und Ereignisgeschichte. Weitere zentrale Aspekte der Geschichtswissenschaft werden jedoch ebenso berücksichtigt, wodurch sich im Geschichtsunterricht durchaus neue „Horizonte“ auftun: Ökonomie (Exkurs „Mensch und Umwelt“, S. 218-230), Geschlechtergeschichte (Projektvorschlag „Kampf um die Rechte der Frau“, S. 114-220), oder auch Technikgeschichte („Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, S. 87). Durch die „Fragen an die Geschichte“ wird das historische Problembewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern gefördert und sie werden angehalten, historische Standpunkte kritisch zu hinterfragen, etwa, ob die Französische Revolution als Fluch oder Segen zu bewerten ist (S. 128) oder ob „Männer Geschichte machen“ (S. 256).

Fazit
Positive Aspekte im Lehrwerk „Horizonte“ sind der klare interne Aufbau der Kapitel sowie das abwechslungsreiche Quellenmaterial. Motivierende Aufgaben, die zum Hinterfragen einladen, sowie die zahlreichen Bild- und Textquellen schaffen eine gute Grundlage, dass Schülerinnen und Schüler ihre bisherigen Kenntnisse und Kompetenzen im Fach Geschichte vertiefen und auch auf ein Studium der Geisteswissenschaften – insbesondere der Geschichtswissenschaft – vorbereitet werden. Durch die ausführlichen und verständlichen Autorentexte bietet sich dieses Buch auch für Selbstlernphasen oder Wiederholungen vor Prüfungen an. Kritisch anzumerken bleiben die nicht chronologische Anordnung der Hauptkapitel und die unzureichende Differenzierung zwischen Primärquellen und Sekundärtexten.