Sozialkunde / Politik, Oberstufe, Gesamtschule, Gymnasium
Sozialkunde
Herausgegeben von | Kurz-Gieseler, Stephan et al. |
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Erschienen | Paderborn: Schöningh, 2007 |
Seitenanzahl | 600 |
ISBN | 978-3-14-035990-0 |
Geeignet für | Berlin, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Saarland, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen, Hamburg, Bremen, Brandenburg, Baden-Württemberg |
Rezensiert von | Klages, Wolfgang (Lehrer), 1. Dezember 2008 |
Rezension von Klages, Wolfgang (Lehrer)
Kurzvorstellung
Der Politikunterricht in der gymnasialen Oberstufe ist darauf angelegt, den Lernenden Kenntnisse und Fertigkeiten über die bisher erworbenen Grundlagen hinaus zu vermitteln. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, das in großem Umfang sachorientierende und methodische Bausteine für dieses Lernziel liefern will, ist das hier vorzustellende Werk.
Auf rund 600 Seiten einschließlich Glossar und Register wird eine entsprechende Stoffmenge ausgebreitet. Die Autorengemeinschaft spricht ihrem Schulbuch einen breiten Verwendungszweck zu. Ungeachtet vielfältiger Lehrpläne und abgestufter Kerncurricula richtet es sich an die gymnasiale Oberstufe insgesamt, d.h. es soll in jedem Bundesland für jedes Unterrichtsniveau im Sekundarbereich II geeignet sein. Diesem kaum einzulösenden Anspruch folgt ein in Teilen nicht weniger unvollkommener Inhalt. Der äußerlich tadellos verarbeitete Band hat seine inneren Mängel. Nicht unzureichend, aber wiederholt hinderlich, nimmt sich dieses Werk aus, um Schülerkompetenzen zu erweitern, in das wissenschaftliche Arbeiten einzuführen und Studierfähigkeit aufzubauen.
Inhalt
An thematischer Weite fehlt es dem aus neun Kapiteln bestehenden Lehrbuch nicht. Strukturen und Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden den Lernenden so dargeboten, dass sich darin zumindest die allgemeinen Rahmenvorgaben für das Fach Politik-Wirtschaft ab Klasse 11 wieder finden. Aktualität und Hintergrundwissen halten sich dabei die Waage. Die ersten zwei Drittel des aufbereiteten Stoffes beziehen sich auf Deutschland, das übrige Drittel ist europäischen und internationalen Fragen gewidmet. Sinnvollerweise wird die Gesellschaft als Ganzes behandelt und eine Beschränkung auf die Teilbereiche „politisches System“ und „marktwirtschaftliche Ordnung“ vermieden. Infolgedessen erstreckt sich der Themenkatalog auch auf Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit in Deutschland.
Aufbau
Die Gliederung des Buches ist wenig einladend. Die Kapitel bauen nach dem Willen der Autoren ausdrücklich nicht aufeinander auf. Die unverbundene Zusammenstellung soll es ermöglichen, in der Themenwahl frei zu sein und entweder dem Lehrplan, tagespolitischer Aktualität oder Schülerwünschen zu entsprechen. Das kann man sich so denken, taugt als Schema für ein Unterrichtswerk aber nicht viel. So dürfte es das Erkenntnisinteresse der Schülerinnen und Schüler kaum anregen, in ein Lehrbuch für junge Erwachsene mit Problemen der alternden Gesellschaft einzusteigen. Unnötig wird gegen nahe liegende lernförderliche Arrangements verstoßen. Ein entflechtendes Raster aus Situationsbeschreibung, Handlungsmöglichkeiten und Bewertung beschränkt sich auf Kapitel I. Die Anordnung der Themen widerspricht mitunter jeder geschichtslogischen Abfolge. Kapitel V behandelt das politische System Deutschlands. Doch das Kapitel über die neuzeitliche Ideengeschichte, aus der sich die politische Ordnung des Grundgesetzes erst erklären lässt, wird zurückgestellt.
Fachdidaktische Positionen
Problematisch ist von Beginn an der didaktische Leitgedanke, den sich die Autorengemeinschaft in ihrem Vorwort zu eigen machen. Danach greife alle Politik in weltweite Zusammenhänge aus und werde zugleich davon betroffen. Dagegen muss man Bedenken vorbringen. Floskeln wie "Die Welt als Dorf" (S. 7) bezeichnen eine modische und dennoch nicht sehr neue These, die einiges für sich hat, anderes aber auch nicht. Unverkennbar hat sich die Welt zu einer Raum und Zeit verdichtenden Verkehrseinheit entwickelt. Von wirtschaftlicher und sozialer, gar politischer Einheit zeigt sich der Planet jedoch weit entfernt. Zunehmende Mobilität lässt die Welt von der technischen Seite her kleiner werden, beherrscht als eine Tendenz aber nicht die Wirklichkeit in toto.
Im übrigen hat die unternehmerische Investition bereits seit der Ausweitung des Seehandels in der Frühen Neuzeit Grenzen überschritten. Und räumlich ausgreifende Politik ist ein Phänomen, seitdem Völker und Staaten in die Weltgeschichte getreten sind. Was wir beobachten ist allenfalls eine Zuspitzung solcher Vorgänge, in die bei krisenhaftem Verlauf aber weiterhin nationalstaatlich, zwischenstaatlich, jedenfalls nicht weltstaatlich eingegriffen wird. So hat die Bankenkrise in 2008 vor Augen geführt, dass die Risiken global entbundener Kapitalanlagen alle beteiligten Länder gemeinsam treffen. Die Bewältigung der kostspieligen Folgen fällt jedoch auf keine andere als die einzelstaatliche Verantwortung zurück.
Hinlänglich und im pluralistischen Sinn schildern die Autoren Probleme, Auseinandersetzungen und Interessengegensätze als prägenden Begleitumstand der Demokratie. Diese Konfliktperspektive vernachlässigt das soziale Bedürfnis des Menschen, seine Hinwendung zur Gemeinschaft und sein erfüllteres Dasein in ihr. Nach wie vor verwirklicht sich im Staat die allgemeinverbindlichste Gemeinschaftsidee. Und demokratische Politik wird, sofern sie sich nicht selbst aufgibt, von dem schöpferischen, ethischen, tief humanen und die Verhältnisse verändernden Willen getragen, äußere Glücksumstände für das Zusammenleben in einem Personenverband zu erwirken. Dass sich das demokratische Gemeinwesen gerade darin erfüllt, die gemeinsamen Anliegen der Bürger zu stärken, Gegensätze zu überwinden und allgemein anerkannte Lösungen zu entwickeln, findet in diesem Schulbuch zu wenig Aufmerksamkeit. Bezeichnenderweise ist weder im Textteil über Schlüsselbegriffe des Politischen (S.12 ff.) noch im Glossar das Gemeinwohl erwähnt.
Autorensprache
Unschärfe und Umständlichkeit, die der Anlage des Buches zusetzen, ziehen sich auch durch einen Teil der Autorentexte. Die Eröffnung vieler Themen, das "Anmoderieren" wie sich die Verfasser ausdrücken, entbehrt der Frische, Farbe und Treffsicherheit. Kopflastig und gewunden, in grauer Theoretisierung und Begrifflichkeit setzt so mancher Beitrag ein. Nicht selten begegnen einem gespreizte Formulierungen wie die folgende zur Beschäftigung mit Klassikern der politischen Ideengeschichte: "Auf diese Weise gewinnen wir Abstand von unserem eigenen Vorverständnis ... und machen uns bewusst, wie unsere Fragestellung und damit Grundzüge unseres Selbstverständnisses in geschichtlichen Erfahrungen verwurzelt sind" (S. 368). Die Methodenschulung beeinträchtigt bis über die Mitte des Buches hinaus ein verklausulierter Satzbau. Für die Untersuchung des politischen Systems Deutschlands wird die Anleitung gegeben: "Durch die Verknüpfung (Vernetzung) inhaltlicher, methodischer und prozessualer Aspekte des Politischen wird die Collage zu einer Art Knoten, der nach einer Vertiefung in den einzelnen Kapiteln des Buches verlangt." (S. 259).
Informationswert der Autorentexte
Jenseits solcher Zumutungen der Autorensprache ist der Sachgehalt der Texte als guter Lehrbuchstandard einzustufen. In der Gesundheitspolitik ist der Kenntnisstand der Verfasser allerdings überholt und bedient in einem wesentlichen Punkt ein Vorurteil. Die Behauptung, Bürger mit hohen Gesundheitsrisiken und geringer Beitragsleistung würden vor allem die Gesetzliche Krankenversicherung belasten (S. 32), lässt sich nicht länger halten. Mittlerweile müssen die privaten Versicherungsträger Bürgern ohne Versicherungsschutz einen Basistarif anbieten, was mit politischer Absicht die Private Krankenversicherung zu einer Solidarleistung verpflichtet. Im Falle der Rentenproblematik ist die Sachinformation nicht ausreichend. Wie sollen die Schülerinnen und Schüler das dreigliedrige deutsche Rentensystem einschließlich "Riester"- und "Rürup-Rente" übersehen, wenn ihnen die gesetzlichen Bestimmungen zur ergänzenden, kapitalgestützten Altersvorsorge nicht einmal in groben Zügen angegeben werden?
Überraschend deutlich unterscheidet sich von bleischweren Buchanteilen zur Wirtschaftslehre das fast 40-seitige Unterkapitel über Arbeitslosigkeit. Der Autorentext gefällt durch Anschaulichkeit und gedankliche Linie, fügt Materialien und Arbeitsaufträge passend ein, enthält genügend Informationen für Analysen und Bewertungen. Umsichtig wird Arbeitslosigkeit sowohl in ihren Auswirkungen auf die Erwerbsbevölkerung als auch in ihrer Tragweite für die Gesamtwirtschaft beleuchtet.
Lob verdienen die Autoren dafür, überall dort, wo es sich vom Stoff her anbietet, auf die ostdeutsche Zeitgeschichte und die Situation in den neuen Bundesländern einzugehen. Die Darstellung des Marxismus-Leninismus hätte man allerdings ideologiekritischer abfassen müssen. Die falschen Voraussetzungen und totalitären Folgen der marxistischen Doktrin kommen kaum zum Vorschein. Zu würdigen ist ferner ein kleiner, aber sehr gelungener Abschnitt über Zäsuren in der Politikgeschichte der Bundesrepublik (Kapitel VI, Abschnitt 2.4). Nachgerade versteckt wird der Demokratie auf wenigen Seiten Farbe, Lebendigkeit und Offenheit gegeben, ihre Erneuerungskraft und Zugänglichkeit für gesellschaftlichen Wandel gezeigt. Dieses zutreffende Bild einer von den Menschen ausgehenden und sie angehenden Politik im demokratischen Staat hätte man sich in den Autorentexten häufiger gewünscht.
Materialienangebot
Ein Schulbuch dieses Umfangs enthält erwartungsgemäß eine Fülle begleitender Text- und meist farbiger Bildmaterialien. Vielfalt und Lernwert sind insgesamt befriedigend. Zitiert wird aus Fachbüchern, Fachzeitschriften, den bekannten Magazinen sowie überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. Zahlreiche, im Druck nicht zu beanstandende Schaubilder, Karikaturen und Tabellen treten dazu.
Uneinheitlich ist der Gebrauch der Neuen Medien. Im Abschnitt über das Regierungssystem Deutschlands und im ganzen Kapitel VI zur politischen Theorie wird nicht eine Internetadresse genannt. Kapitel VII ergänzt dagegen den Textteil um nützliche Webverweise. Zu den Schönheitsfehlern zählt die zuweilen verwirrende Platzierung der Materialien. Rück-, Vor- und Querverweise auf Texte und Grafiken, die erneut oder im Voraus für Arbeitsaufträge verwendet werden sollen, münden in ein hin- und her blätterndes Puzzlespiel.
Bei den Textzitaten, vor allem Zeitungsartikeln, wäre mehrfach ein Hinweis auf den Hintergrund des jeweiligen Autors angebracht. Es berührt schon den Aussagegehalt, ob ein Wissenschaftler in einem Gastbeitrag zu Wort kommt oder ein Journalist seinen tagespolitischen Kommentar abgibt.
Den vielen, im Vergleich zur Fachliteratur verbreitet jünger datierten Schaubildern ist - wenn der Sachgehalt zu stark gebündelt wird - nicht immer Sinnfälligkeit mitgegeben. Eine Abbildung zum Wirtschaftskreislauf (S. 147) wird mit Pfeilen und begrifflichen Zuordnungen so überhäuft, dass ein Labyrinth entsteht.
Arbeitsaufträge und Methodenkompetenz
Je sperriger eine Text- und Materialgrundlage ausfällt, desto ungünstiger sind die Voraussetzungen für Aufgabenstellungen, die Lernfreude unterstützen und fachlich erwünschte Lernerfolge zeitigen. Mit Abstrichen gelingt es dem vorliegenden Lehr- und Arbeitsbuch, fachdidaktische Ziele zu erreichen. Der Bogen dessen, was die Schülerinnen und Schüler anhand dieses Buches im Politikunterricht grundsätzlich lernen können, spannt sich von der Problemorientierung über Fertigkeiten zum Wissenserwerb bis zu Handlungserfahrungen.
Das Einüben methodischer und analytischer Fähigkeiten ist das besondere Anliegen der Verfasser. Fraglos wird dafür mit textbezogenen Verfahren wie Präsentieren, Moderieren, statistischen Auswertungen, Szenariotechnik, empirischer Sozialforschung, Planspielen und Interviews ein großes Angebot zur Verfügung gestellt.
Einen Spielfilm ("Das Leben der Anderen") vor zeitgeschichtlichem Hintergrund zu diskutieren, ist ein guter Einschub, die vorwiegende Textebene zu verlassen und das besondere Format des Dokumentationsdramas für die Schüler/innen zu erschließen. Ferner wird in Rollenspielen politisches Handeln zu einem praktischen Verständnis gebracht.
Indessen dürften die Lernaufgaben häufiger aus einem methodisch-didaktischen Guss sein. Beispielweise listet der Autorentext in Kapitel V (S. 299 ff.) Funktionen des Regierens auf. Die anschließende Methodenschulung stellt jedoch darauf ab, eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin anhand rhetorischer Kriterien zu untersuchen. Ungleich besser wäre es gewesen, sich der Aufgabenbestimmung des Regierens auch methodisch anzunehmen. Stattdessen wird dieser Zusammenhang unterbrochen und in das völlig andere Feld der Sprach- und Argumentationsanalyse einer politischen Rede gewechselt.
Bei einigen Textmaterialien sucht man vergeblich nach einer Verbindung zu den Arbeitsvorschlägen. Ob Auszüge aus der Fachliteratur dann der bloßen Orientierung dienen oder Lehrende und Lernende selbständig Aufgaben entwerfen sollen, lässt sich nicht ermitteln.
Wissenschaftsbezug
Ein Doppelgesicht prägt nicht zuletzt den politikwissenschaftlichen Forschungsstand des Buches. Die ohnehin gefälligeren Kapitel im Schlussdrittel des Buches über internationale Politik, europäische Einigung und weltweite Verantwortlichkeiten der Politik halten jenen Anschluss an die Forschung, den man in den zuvor behandelten Bereichen „politisches System“ und „politische Theorie“ vermisst. Auf beiden Gebieten laufen die Textbeiträge der Forschung gehörig hinterher. Der Erkenntnis- und Diskussionsstand, an den sich die Verfasser hier anlehnen, liegt mindestens zwei Jahrzehnte zurück. Bei der Begriffsbestimmung des "Politischen" (S. 16) einem Unterrichtsbuch von 1979 zu folgen und daraus Definitionen aus den sechziger Jahren zu zitieren, bringt verstaubte Buchrücken zum Vorschein. Die vorbereitende Lektüre für das Zentralabitur an achtjährigen Gymnasien muss aktuelleren Datums sein.
Gleichermaßen waren die angelsächsischen Politikdimensionen "polity", "policy" und "politics" in den achtziger Jahren wissenschaftspopulär. Inzwischen hat sich die Begrifflichkeit - im Übrigen auch in deutscher Sprache - weiterentwickelt. In den neuen, rechtskräftigen Kerncurricula für das Fach Politik-Wirtschaft wird von "inhaltlich-normativen, prozessualen und institutionell-formalen" Elementen der Politik gesprochen (Kerncurriculum für den Sekundarbereich II, hrsg. v. Niedersächsischen Kultusministerium, Hannover 2007, S. 10). Zudem hätte man die verwendete Fachliteratur und politikwissenschaftliche Standardwerke in einem Verzeichnis zusammenfassen sollen.
Fazit
Stephan Kurz-Gieseler hat ein Schulbuch mit Licht und Schatten herausgegeben. Umstrittene Ausgangsthesen, methodologische Übertreibungen und verwickelte Gedankengänge schränken den Gebrauchswert in der Unterrichtspraxis ein. Diese Beschwerlichkeiten in der Verwendung können auch die zugänglicheren Anteile nicht ausgleichen, die zum Ende des Buches hin thematische und methodische Qualität besitzen. Für ein Schulbuch dieser Größenordnung reicht es nicht aus, wenn kaum mehr als ein Drittel der Kapitel wirklich gelungen sind. Die Grundlage, die ein solches Lehr- und Arbeitsbuch dem Politikunterricht in der gymnasialen Oberstufe bieten will, muss eine breitere und nützlichere sein. Gerade an ein Werk, das als länderübergreifender Gesamtband für die Sekundarstufe II ausgearbeitet ist und gestiegenen Ansprüchen an innovativen Politikunterricht zu genügen hat, darf man eine hohe Messlatte anlegen. Für jede Neuauflage empfiehlt sich eine Auffrischung und Präzisierung mehrerer Autorenbeiträge. Das auffällige Gefälle in der konzeptionellen und darstellenden Leistung der sieben Verfasser sollte sich nicht wiederholen.