Geschichte, 9./10. Schuljahr, Gesamtschule, Gymnasium
Geschichte und Geschehen 3
Herausgegeben von | Sauer, Michael et al. |
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Erschienen | Stuttgart: Klett, 2009 |
Seitenanzahl | 328 |
ISBN | 978-3-12-443030-4 |
Geeignet für | Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein |
Rezensiert von | Lühr, Franziska und Julia Henrike Bartel (Studierende), 17. Juni 2010 |
Projekt | Christian-Albretchts-Universität Kiel, Wintersemester 2009/10 |
Rezension von Lühr, Franziska und Julia Henrike Bartel (Studierende)
Einleitung
Das 328 Seiten starke Schulbuch Geschichte und Geschehen 3 ist im Jahr 2009 im Klett Verlag erschienen. Es ist für die gymnasiale 9. Klasse in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein konzipiert. Das Format erreicht nicht ganz DinA4. Das Schulbuch beinhaltet eine CD-ROM mit zusätzlichen Arbeitsmaterialien.
Laut der Verlags-Homepage „stellt [Geschichte und Geschehen 3] sich den aktuellen Anforderungen des modernen Geschichtsunterrichts [und die] Schüler [sollen] lernen kompetent mit Geschichte umzugehen. Durch das gleichzeitige Fördern von Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz entwickelt die Schüler ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein.“
Diese Rezension stützt sich in erster Linie auf das Kapitel „Die Welt nach 1945“. Dieses Kapitel enthält neben den üblichen Verfassertexten, Quellen und Darstellungen eine Doppelseite zum Methodentraining, eine zusätzliche Themenseite „Geschichte erinnert und gedeutet“ sowie die Rubrik „Wiederholen und Anwenden“.
In dieser Rezension soll vor allem untersucht werden, ob die obigen Ansprüche des Verlags bezüglich des Kompetenztrainings erfüllt werden. Zusätzlich werden wir das Lehrbuch hinsichtlich der fachdidaktischen Aspekte Multiperspektivität, Pluralität und Kontroversität analysieren. Desweiteren prüfen wir das Geschichtsbuch im Hinblick auf die Einhaltung eines offenen Geschichtsbildes und betrachten die narrative Sachlichkeit. Aus fachwissenschaftlicher Perspektive untersuchen wir Geschichte und Geschehen 3 hauptsächlich in Bezug darauf, ob verschiedene Forschungsansätze wie z. B. Politik-, Gender- und Weltgeschichte vertreten sind.
Aufbau
Zu Beginn des Buches befindet sich eine kurze Einleitung, die sich direkt an die Schülerinnen und Schüler wendet. In ihr wird der Aufbau des Buches erläutert und auf Besonderheiten hingewiesen, wie z. B. die zugehörige CD-ROM sowie Hinweise auf die Verlags-Homepage, die viele Informationen und Materialien verspricht. „Geschichte und Geschehen 3“ behandelt den Zeitraum vom Zarenreich bis Deutschland nach 1945. Der letzte Themenbereich, der behandelt wird, ist die Wiedervereinigung Deutschlands. Eine weitere einführende Seite versucht den Schülerinnen und Schülern zu erklären, wie sie mit dem Buch arbeiten können. Anhand von Beispielseiten aus dem Buch und kurzen Kommentaren wird der allgemeine Aufbau und der Umgang mit den Methodentrainingsseiten sowie der Rubrik „Wiederholen und Anwenden“ erläutert. Außerdem werden die im Buch verwendeten Symbole erklärt. Diese Erklärungen sind schülergerecht formuliert und sprechen die Schülerinnen und Schüler direkt an. Die Konzeption der einzelnen Kapitel ist weitestgehend einheitlich gestaltet. Jedes Kapitel beginnt mit einer Auftaktdoppelseite, auf der die Schülerinnen und Schüler Leitfragen, die durch das geschichtliche Thema führen sollen, eine Karte zur geographischen Einordnung des historischen Ereignisses sowie einen Zeitstrahl, der die wichtigsten Daten in einen größeren Zusammenhang einordnet, finden. Jedes Kapitel wird in weitere Themenbereiche unterteilt. Für das zu untersuchende Kapitel „Die Welt nach 1945“ bedeutet dies eine Unterteilung in elf Einzelbereiche (exemplarisch: „Aus Verbündeten werden Gegner“ und „Wäschst Europa zusammen?“). Die konkreteren Themenbereiche gliedern sich in Verfassertexte, Quellen, Darstellungen, Bilder, Karten und Aufgaben. Die Verfassertexte sind in kürzere Absätze mit separaten Überschriften unterteilt. Taucht im Verfassertext ein Fremdwort auf wird dieses mit roter Schrift hervorgehoben und am Rand näher erklärt. An dieser Stelle wollen wir den fachdidaktischen Untersuchungsbereich vorweggreifen und dieses Vorgehen bewerten: Es fällt auf, dass im Kapitel „Die Welt nach 1945“, welches 59 Seiten umfasst, lediglich fünf Fremdwörter erklärt werden (z. B. „Monokultur“ und „Trauma“). Dabei erscheint uns die Erläuterung für „Trauma“ unnötig, während andere Wörter wie z. B. Wirtschaftsembargo unberücksichtigt bleiben. Desweiteren ist zu kritisieren, dass die Wörter nicht in einem zusammenhängenden Glossar nachgeschlagen werden können.
In jedem Kapitel findet sich eine Doppelseite zum Methodentraining (z. B. historische Spielfilme auswerten) sowie eine Wiederholungsseite. Nur in zwei Kapiteln ist die Rubrik „Geschichte erinnert und gedeutet“ enthalten (z. B. der Nahostkonflikt). Am Ende des Buches befindet sich ein ausführliches Methodenglossar.
Fachdidaktische Aspekte
Im Rahmen dieser fachdidaktischen Untersuchung werden wir das Geschichtsbuch hinsichtlich Multiperspektivität, Kontroversität sowie auf ein offenes Geschichtsbild bewerten, wobei wir uns in erster Linie auf die schriftlichen Quellen stützen. Zunächst ein paar Vorbemerkungen zu den schriftlichen Quellen: Es fällt auf, dass in diesem Schulbuch sehr viele Quellen verarbeitet werden. Pro Unterkapitel lassen sich zwischen 6-15 Quellen finden. Leider sind die schriftlichen Quellen z. T. sehr stark gekürzt worden (extremes Bsp.: S. 103, Quelle 6 in der sich Mussolini über den Faschismus äußert; hier finden sich sechs Auslassungszeichen). Desweiteren sind viele Quellen insgesamt sehr kurz (extremes Bsp.: S. 13, Quelle 2 über die russische Gesellschaft umfasst nur zwei Sätze). Positiv zu bemerken ist, dass einige Quellen im Original abgedruckt sind (Bsp.: S. 158, Quelle 3 „Die Truman-Doktrin“).
Multiperspektivität findet sich in jedem Kapitel des Geschichtsbuches. So äußern sich im Kapitel „Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg“ der britische Premierminister David Lloyd George und der französischer Botschafter Robert Coulondre in zwei unterschiedlichen Quellen über die politische Situation in Deutschland (S. 126/127), wobei diese von den Zeitzeugen widersprechend bewertet werden. Als besonders gelungenes Beispiel für Multiperspektivität möchten wir auf die Quellen zum Marshallplan hinweisen, die im Kapitel „Deutschland nach 1945“ enthalten sind. Hier findet man einen Auszug aus einer Rede des amerikanischen Außenministers Marshall von 1947 sowie ein Auszug aus einer Rede des sowjetischen Außenministers Molotow ebenfalls aus dem Jahr 1947 (S. 228/229). An dieser Stelle zeichnen sich die gegensätzlichen Positionen der sich herausbildenden Blockstaaten ab. Der vermittelte Gegensatz wird zusätzlich durch Bildmaterial unterstützt, da sich auf den gleichen Seiten, zwei entsprechende Plakate finden lassen. Das erste Plakat, das aus der westlichen Besatzungszone stammt, bewertet den Marshallplan positiv. Das zweite Plakat erschien in der sowjetischen Besatzungszone und positioniert sich entsprechend gegensätzlich. Somit enthält Geschichte und Geschehen 3 Material für alle Lerntypen. Allerdings muss bemerkt werden, dass sich an dieser Stelle ein kleiner Fehler eingeschlichen hat: Die Bildunterschrift des in der westlichen Besatzungszone erschienenen Plakates lautet „Bundesrepublik 1947“. Die Bundesrepublik wurde allerdings erst 1949 gegründet. Dies kann zu erheblichen Verwirrungen seitens der Schülerinnen und Schüler führen.
Leider konnten wir in dem zu untersuchenden Kapitel „Die Welt nach 1945“ keine Ansätze der Kontroversität von historischen Darstellungen und Deutungen finden. Insgesamt konnten wir keine Quellen finden, in denen sich Historiker zu Wort melden und die geschichtlichen Zusammenhänge aus heutiger Sicht kritisch beurteilen. Dadurch fehlt Geschichte und Geschehen 3 überhaupt die Voraussetzung ein offenes Geschichtsbild den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.
Ein offenes Geschichtsbild zu vermitteln heißt, dass die Schülerinnen und Schüler den Konstruktionscharakter der Geschichte möglichst selbständig erkennen und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen, ohne dass sie in jedem Fall vom Autorentext, der Anordnung der Quellen und den Aufgabenstellungen gelenkt werden. Die Autorentexte bilden in Geschichte und Geschehen 3 einen gelungenen Rahmen um ein offenes Geschichtsbild zu fördern. In dem untersuchten Kapitel haben wir keine besonders konnotierten Begriffe gefunden (narrative Sachlichkeit), obwohl einige Sätze zu umgangssprachlich erscheinen (Bsp.: „Am 12. Mai 1949 war der Spuk vorüber…“ S. 153). Die Quellen folgen einem chronologischen Prinzip und sind nicht willkürlich angeordnet. Die Anzahl der Fragen in jedem Kapitel variiert stark. Die schriftlich zu bearbeitenden Aufgabenstellungen steigen vom Schwierigkeitsgrad an (zunächst sollen die Schülerinnen und Schüler die Inhalte der Autorentexte bzw. der Quellen zusammenfassen, dann sollen die Inhalte erklärt und abschließend verglichen und erläutert werden S. 167). Allerdings fehlen in diesem Kapitel Aufgaben, in denen die Inhalte von den Schülerinnen und Schülern bewertet werden. Gerade derartige Aufgabenstellungen sind unabdingbar um ein offenes Geschichtsbild zu fördern.
Fachwissenschaftliche Aspekte
Verschiedene Forschungsansätze sind in Geschichte und Geschehen 3 enthalten: z. B. Politik-, Sozial-, Welt-, Kultur- und Gendergeschichte. Darstellungen, Karikaturen und die schriftlichen Quellen vermitteln größtenteils die Aspekte der Politik- und Weltgeschichte. Auf diese Bereiche stützen sich auch hauptsächlich die Autorentexte. Während die Fotografien Einblicke in die übrigen Forschungsansätze ermöglichen. Unserer Meinung nach wird vor allem der Gendergeschichte nur halbherzig nachgegangen. Hierzu ein Beispiel: Auf Seite 175 ist eine Fotografie abgebildet, auf der ein sowjetischer Soldat und eine junge Pragerin während der Zeit des Prager Frühlings zu sehen sind. Die Aufgabenstellung dazu lautet: „Versetze dich in die Lage der jungen Frau und formuliere, was sie dem sowjetischen Soldaten sagt. Versetze dich in den jungen Soldaten und schreibe auf, was er möglicherweise in dieser Situation dachte.“ Leider findet man gendergeschichtliche Aspekte in Geschichte und Geschehen 3 fast ausschließlich in dieser Form. Wünschenswert wäre es sie auch in den schriftlichen Quellen etc. bearbeitet zu sehen.
Fazit
Auf den ersten Blick überzeugt Geschichte und Geschehen 3 durch sein ansprechendes Layout, durch die Methodentrainingsseiten, verständliche Autorentexte und durch die Vielfalt und große Anzahl unterschiedlichster Quellen. Bei genauerer Analyse des Schulbuches muss man leider feststellen, dass die Kontroversität und der dritte Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung völlig außer Acht gelassen worden sind. Dadurch kann den Schülern kein offenes Geschichtsbild vermittelt werden, was die Voraussetzung für ein gelungenes Geschichtsbuch ist.