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Geschichte, Oberstufe, Andere Schulart

Geschichte und Geschehen – berufliche Oberschule Bayern

Geschichte und Geschehen – berufliche Oberschule Bayern
Herausgegeben von Armbruster, Felix et al.
Erschienen Stuttgart: Klett, 2012
Seitenanzahl 306
ISBN 978-3-12-416340-0
Geeignet für Bayern
Rezensiert von Nellen, Jörg (Lehrer), 4. Juli 2013
Reihe Eckert.Rezensionen

Rezension von Nellen, Jörg (Lehrer)


Einleitung
„Geschichte und Geschehen“, 2012 beim Klett-Verlag Stuttgart erschienen, ermöglicht facettenreiches, schülerorientiertes, auf Selbstständigkeit ausgerichtetes, bilinguales, kompetenzorientiertes, historisches Lernen in den 11. FOS- und 12. BOS-Klassen der Beruflichen Oberschule Bayerns (Fachober- und Berufsoberschulen FOS/BOS). Für die BOS-Vorklasse und die 13. Klassen müssten eigene Lehrwerke angeschafft werden.
Inhalte und Fachmethodik werden systematisch vermittelt. Die Lehrkraft kann sich auf die Lehrplantreue des Lehrwerks verlassen: Der „geheime Lehrplan“ des Lehrwerks entspricht dem offiziellen. Die Modularisierung des Lehrplans ist in Inhaltsverzeichnis und in den Kapiteln deutlich gemacht.
Die Lehrkraft hat ein Lehrerhandbuch vorliegen, das didaktische und inhaltliche Hilfen, Tafelbilder (sportlich: zu jedem Kapitel eins), Musterarbeiten mit Lösungen, sowie Lösungsvorschläge zu allen Lehrbuchaufgaben enthält. Lernende wie Lehrende können über einen Zugangscode auf zusätzliches Material auf der Verlagswebseite zugreifen. Lernenden werden kompetenzorientierte, oft kreative Aufgaben, gestellt; sie finden Hilfe in Methodenseiten, Verortung auf Zeitstrahlen und Anregung zu Vertiefung und Wiederholung.
Das Lehrwerk liegt als Hardcover vor, was der Haltbarkeit im lernmittelfreien Bayern (ca. 10 Jahre) entgegen kommt. Das Layout unterscheidet den luftigen Lehrtext („Verfassertext“, VT)  in zweispaltigem, linksbündigem Flattersatz mit serifenfreier Schrift deutlich von Textquellen in zweispaltigem Blocksatz in Serifenschrift. Ein Farbleitsystem trennt Zeitangaben (orange Tabellen und Zeitstrahlen) von Lernbegriffen und Aufgaben (blau). Lebende Kolumnentitel machen die Orientierung durch Kapitelthema und Zeitstrahlausschnitt leicht. Die Druckqualität ist durchweg hoch.

Das Konzept der Autoren darstellen und charakterisieren
Das zwölfköpfige Autorenteam, überwiegend aus bayerischen BOS-Lehrkräften um den erfahrenen Klett-Schulbuchherausgeber Dr. Jürgen Kochendörfer, der jüngst zu kompetenzorientierter Aufgabenstellung publiziert hat, gibt in seinen Vorworten eher inhaltliche als konzeptionelle Hinweise. Schwerpunkt ist die Aufgabenstellung zu Abbildungen (LB S.3). Die Lernenden werden zu selbstständigen und kooperativem Lernformen ermutigt (SB S. 3) und in die Kapitelstruktur eingeführt (S.6f). Das Lehrbuch ist inhaltlich nach den fünf Lerngebieten des bayerischen Lehrplans gegliedert. Dazu kommen Hinweise zu den Aufgabenstellungen des kompetenzorientierten Unterrichts (SB S.294f), eine thematische Sammlung englischer Vokabeln zu Geschichte und Analyse (SB S.296), eine Literatursammlung (S.297), ein umfangreiches und detailliertes Glossar (SB S. 298ff), der Bildnachweis (SB S. 305, gut: nach Seiten) und zwei Europakarten in den Innentiteln.
Der Lehrerband bietet kapitelweise didaktische und inhaltliche Hilfestellungen (Modellantworten zu allen SB-Aufgaben), fünf Muster-Kurzarbeiten (LB S.82ff), und Tafelbilder zu den Lerngebieten 2 bis 5 (LB S. 92ff). Das im Inhaltsverzeichnis angekündigte Glossar und der Bildnachweis fehlen im Lehrerband, sind aber im Lehrbuch zu finden.
Jedes Lerngebiet ist im Lehrbuch in vier bis sechs Kapitel (insgesamt 28) unterteilt. Eine „Orientierungs(doppel)seite“ mit Einführungstext, Karte, Zeitstrahl und vier Schlüsselbildern wird von „Themenseiten“ gefolgt, die wiederum Darstellungen und verschiedene Quellenarten bietet. Dazwischen finden sich 14 Methodenseiten, die in fachliche und hilfswissenschaftliche Arbeitsmethoden einführen, indem sie Musterlösungen zu Arbeitsschritten bieten. Drei englische Doppelseiten erfüllen die Lehrplanforderung nach bilingualem Unterricht (SB S.108f, 246f, 290f), die durch Metavokabular („Working Vocabulary“) ergänzt werden (SB S.296). Am Ende jedes Kapitels werden die Lernenden zum „Wiederholen und Anwenden“ an weiterem Quellenmaterial angeregt.
Die Themen werden im Wesentlichen durch einen einführenden Text, eine Zeittabelle und einen Lehrtext (Verfassertext, VT) als konstruktivistische Narration präsentiert. Quellen finden sich durchnummeriert in den Randspalten und Textquellen am Kapitelende. Arbeitsaufträge und (zu selten) Fachwörtererklärungen am Schluss regen selbstständigen Kompetenzerwerb gezielt an. Problemorientierung ist ansatzweise in Lernfragen (SB S.8) oder rhetorischen Fragen (SB S. 12, 59) zu finden.
Äußerst lobenswert ist die Verknüpfung von Lehrbuchtext (VT) und mehreren Quellen durch die Arbeitsanweisungen. Hier sind Problemlösestrategien gefordert, die weit über eine kleinschrittige Quellenuntersuchung hinausgeht, vielmehr Zusammenhänge erschließen hilft.
Der Schwerpunkt des Lehrbuches liegt auf gezieltem Aufbau historischer Sach-, Methoden und Orientierungskompetenzen durch die Arbeitsaufträge. Historische Fragekompetenz wird nicht explizit angestrebt, narrative Kompetenz dann, wenn Arbeitsaufträge die Erstellung einer Argumentation oder Narration fordern (AA6 SB S.95: „Beschreiben Sie wie ... sich entwickeln (VT, M14)“). Historisches Lernen wird damit erreichbar. Damit Lehrkräfte dieses Angebot gezielt nutzen können, bietet der Lehrerband hinreichend Hilfestellungen. Den Lernenden werden lernpsychologisch begründete Hilfen geboten (Visualisierung, Farben).

Autorentexte/Verfassertexte
Der Autorentext ist dem Alter der Lernenden (16 bis 25) angemessen verständlich und motivierend (rhetorische Fragen) formuliert. Nur hier und da werden Lernende über Fachwörter stolpern (Annexion, SB S. 118), die auch im Glossar unerklärt bleiben. Andere Fachbegriffe werden im Fließtext  durch Nebensätze („’freie Hörige’, ehemals Freie“, SB S. 17) oder in Klammern (Feudalismus (lat. feudum = das Lehen), ebd.) erklärt. Man vermisst die farbliche Hervorhebung von Lernwörtern. So wirken die Lehrtextseiten trotz Zwischenüberschriften recht „bleiwüstig“ (SB S. 18, 91 u.ö.).
Das Narrativ des Lehrtextes ist im Sinne eines konstruktivistischen Geschichtsbildes eher apodiktisch. Die Lernenden erfahren Geschichtsdarstellung als „und dann“. Ursachen und Wirkungen werden im Zusammenhang dargestellt, Argumente und Begründungen fließen ein.
Im Sinne des westlichen Geschichtsbildes wird in Einzelfällen intrinsisch gewertet („kapitalistisch“ in Anführungszeichen gesetzt, SB S.48), die Sowjetunion „drillte“ ihre Sportler, während die BRD „ein neues Sportfördersystem“ ins Leben rief, SB S. 235). Überwiegend werten Standpunkte aber deutlich („Aufarbeitung“): Der Umgang mit den Stasi-Akten wird bspw. aus allen Perspektiven mit knappen, wertenden Worten bedacht („berechtigtes Interesse“, „Bewertung schwierig“, Einblick ... existentiell“, SB S. 139). Im oben genannten Beispiel der Darstellung von „Aufarbeitung“ wird den Lernenden keine Perspektive als stichhaltig vorgegeben. So kann zur eigenen Meinungsbildung angeregt werden.

Bildmaterialien
Das Angebot an Quellengattungen ist breit und Textquellen können mithilfe einer Zeilenzählung leicht erschlossen werden. Die Auswahl und Präsentation der Quellen ist in der Regel sinnvoll hinsichtlich Länge, Themenbezug, und Verständlichkeit. Interpretierbaren Quellenangaben wird Rechnung getragen, indem bei Personen Lebensdaten, bzw. Regierungs- oder Amtsdaten beigegeben sind. Das gilt auch für das Register. Abbildungen sind in der Regel datiert und können so kontextualisiert werden. Eine Doppelung mit dem Autorentext (VT) findet nicht statt. Auf Methodenseiten zu Bild-, Foto-, Text-, Karikaturen-, Plakatquellen, zu Zeitzeugen, Statistiken, Werbung, Experteninterview und zur Internetrecherche können Lernende systematisch in historische und hilfswissenschaftliche Arbeitsmethoden eingeführt werden. Dabei werden Arbeitsschritte mustergültig mit möglichen Antworten versehen. Diese können im Nachvollzug auf alle anstehenden Quellenuntersuchungen angewandt werden. Es liegt eine angemessene Vielfalt von Bildquellen (Malerei SB S.9), Grafiken (Karikaturen, Statistiken, Schaubilder SB S.169), und Fotos von historischen Objekten etc. vor. Die Auswahl ist motivierend und innovativ (Auftaktseiten). Die Legenden beschränken sich auf Typ, Künstler und Jahreszahl, oft ergänzt durch Sachinformationen oder Arbeitsaufträge.
Vielfältige grafische Materialien (historische Themenkarten (Auftaktseiten), Schaubilder (SB S.169), Diagramme (SB S.242, Tabellen (Chroniken) und Rekonstruktionen (nur SB S.11)) erhöhen die Anschaulichkeit durchweg. Anschauliche Illustrationen fehlen, da auf Quellen Wert gelegt wurde.
Qualität und Format der Abbildungen sind angemessen, so dass wichtige Details erkennbar sind. Bildmaterialien sind hin und wieder in ein Konzept der Multiperspektivität eingepasst (zeitgenössische Kontroversität: Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Reichstag als Re-Konstruktion, SB S. 38) oder können im Sinne einer zeitgenössischen Multiperspektivität aktiviert werden (M2, S.259 und M5, S.262 zur Wiedervereinigung aus ausländischer Sicht). Auch Kompetenzen zur Analyse ideologisch-einseitiger Bildinhalte werden vermittelt (M1 und M2, Foto von Nick Ut, SB S. 206). Bildmaterialien werden methodisch mehrfach systematisch erschlossen (s. 5.3).

Begleitmaterialien und neue Medien einbinden
Es wird sowohl methodisch in die Internetrecherche eingeführt (SB S.278f), als auch zur Vorbereitung auf Präsentationen und Stellungsnahmen als Recherchemittel aufgefordert (Aussiedlerverbände, SB S.195), und auf Zusatzmaterialien auf der Website des Schulbuchs mittels Zugangscode hingewiesen (SB S.147). Damit ist eine zeitgemäße, der Lebenswirklichkeit der Lernenden entsprechende Informationsquelle methodisch erschließbar.

Aufgabenstellung
Die Aufgabenstellung entspricht allen Anforderungen modernen Geschichtsunterrichts. Sie ist zum einen an den vom Lehrplan geforderten Operatoren des kompetenzorientierten Lernens orientiert, in die auch eingeführt wird (SB S. 294f); zum anderen erfüllen sie die Anforderungen des eigenverantwortlichen, schülerorientierten, und kreativen Lernens. Besonders lobenswert ist zudem die Verschränkung verschiedener Quellen und Verfassertexte, um Aufgaben zu bearbeiten. Aber auch Methoden des Sprechblasen Erstellens, des Briefe Schreibens, des Poster und Präsentationen Erstellens und das Lernen im Lernzirkel(SB S.86f) sind lobenswerte Klein- und Großformen zeitgemäßen Geschichtsunterrichts, die nicht nur rein analytisch an die Gegenstände heranführt.
Die Aufgaben finden sich jeweils am Ende des Kapitels und erfordern die Auswertung vom Lehrtext und verschiedener Quellen. Hier kann eine Differenzierung nach Leistungsgruppen gelingen, wie sie die sehr heterogene Lerngruppe an der Beruflichen Oberschule darstellt, die aus Schülern und Schülerinnen mit bis zu drei Schularten und evtl. beruflicher Bildung zusammengesetzt ist. Diese Differenzierung ist auch in der Operationalisierung der Kompetenzstufen angelegt. Doch birgt diese die Gefahr, dass langsamere Lerner rekapitulieren. Werden Sie aber zum Briefeschreiben oder zur Darstellung kontroverser Positionen, z.B. in Plakaten, angeleitet, kann auch zur Sach- und Werturteilsbildung im Sinne historischen Lernens angeleitet werden.
Das Lehrwerk verfügt  über ein ausgewiesenes Methodenkonzept, das Lehrer und Schüler gezielt einsetzen können: Einführungen in komplexe fachliche Arbeitsschritte auf den Methodenseiten, differenzierter und aussagekräftiger Registeranhang, sowie Hinweise auf die lehrplanimmanenten Wahlmodule im Inhaltsverzeichnis und in den entsprechenden Kapiteln der Lerngruppen 4 und 5. So können Lernende an diesem wichtigen Aspekt des Lehrplans (Auswahl der Module) im Sinne eines partizipatorischen Lernens aktiv und kompetent beteiligt werden.

Fachdidaktische Positionen und Fragestellungen
Das Lehrwerk ermöglicht die Anwendung einer breiten Vielfalt an Unterrichtskonzepten. Fragend-entwickelnder Frontalunterricht; handlungsorientiertes, selbstorganisiertes, und schülerorientiertes Lernen (Gruppenarbeit, Präsentationen, Freiarbeit/Lernzirkel); und  problemorientiertes Lernen werden angeboten. Es obliegt der Lehrkraft, die Methodenvielfalt im Sinne eines differenzierenden Unterrichts zu nutzen.
Das vorherrschende fachdidaktische Konzept ist das operationalisierte, kompetenzorientierte Lernen. Historisches Lernen kann insbesondere durch Aufgaben zum Gegenwartsbezug (in den Kapiteleinleitungen explizit angelegt) gezielt angeleitet werden.. Damit kann das Bewusstsein der Lernenden aufgebaut werden, dass alles gegenwärtige auf der Vergangenheit fußt; was zu begründeten Sach- und Werturteilen befähigen soll (Geschichtsbewusstsein). Dass Geschichtskultur auf Rekonstruktionen der Vergangenheit beruht, die jeweils von Perspektiven abhängen, ist an vielen Stellen angelegt. Multiperspektivität (in der Zeit, Frauenrolle SB S.172ff), Kontroversität (, Historikerstreit SB S. 133) und Pluralität (unterschiedliche Deutungen der Vergangenheit, Ostermarsch SB S. 199) können dies deutlich machen. Das ist eine Stärke dieses Lehrwerkes.
Das Lehrwerk vermittelt lehrplanbedingt eine eurozentrische und oft westdeutsche geschichtliche Sichtweise. Außereuropäische Kulturen und ihre Sicht sind - außer bei den USA - kein Thema. Konflikte vom Zweiten Weltkrieg bis zum Terrorismus werden überwiegend facettenreich und multikausal dargestellt. Die Narration des Kalten Krieges folgt der westlichen Sicht mit Distanz zu sozialistischen Begründungen
Dem Anspruch von PISA, die Lernenden zu selbständiger Problemlösung zu befähigen, werden die Aufgabenstellungen gerecht, die in ihrer Komplexität (bis zu drei Texte auswerten und zusammentragen) in Kombination mit der methodischen Differenzierbarkeit vorbildlich sind.

Fachwissenschaftliche Aktualität gewährleisten
Es werden zentrale Dimensionen der Geschichtswissenschaft angemessen berücksichtigt: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Geschlechtergeschichte, Alltag, Umwelt, Kultur, Wissenschaftsgeschichte, sowie transnationale Geschichte finden im Lehrbuch ihre Bedeutung.  Auch aktuellere Themen wie der Tod des radikalislamistischen Terroristen Osama Bin Ladens werden berücksichtigt. Transkulturelle Aspekte werden in der Migrationsfrage (SB S. 184ff) leider nur angerissen, und fehlen komplett bei der Betrachtung des Islams, der auf den radikalislamistischen Terrorismus reduziert wird (SB S. 268ff).


Lizenz: CC BY-ND 4.0 Lizenz „Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ (CC BY-ND 4.0)


Info Zitation Nellen, Jörg. Rezension zu: Geschichte und Geschehen – berufliche Oberschule Bayern von Armbruster, Felix et al. (Hg.). Stuttgart: Klett 2012, ISBN 978-3-12-416340-0, Edumeres 2013, https://edu-reviews.edumeres.net/rezensionen/rezension/nellen-joerg-4/, zuletzt geprüft am 26.03.2024.