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Geschichte, 9./10. Schuljahr, Gymnasium, Gesamtschule

Geschichte und Geschehen – Einführungsphase

Geschichte und Geschehen – Einführungsphase
Herausgegeben von Dzubiel, Christina et al.
Erschienen Stuttgart: Klett, 2014
Seitenanzahl 256
ISBN 978-3-12-430103-1
Geeignet für Nordrhein-Westfalen
Rezensiert von Kuck, Dennis (Lehrer), 8. April 2015

Rezension von Kuck, Dennis (Lehrer)


Das neue Lehrwerk Geschichte und Geschehen – Einführungsphase Oberstufe aus dem Klett Verlag folgt exakt dem neuen diachronen Kernlehrplan für Nordrhein-Westfalen, der zum Schuljahr 2014/2015 in Kraft getreten ist. Es bietet damit grundsätzlich eine brauchbare Basis für den Unterricht und auch für die Umsetzung der Hauscurricula, die die Schulen in NRW dieses Jahr recht detailliert zu leisten haben.
Um die diachrone Vorgehensweise an Längsschnitthemen aufzufangen, bietet das Werk drei Doppelseiten zur „Zeitlichen Orientierung“, die Schlaglichter von 300 n. Chr. bis zur Gegenwart aus den Bereichen 1) „Technik, Kultur und Wissenschaft“, 2) europäischer und 3) außereuropäischer Geschichte kompilieren. Zu diesen Zeitleisten finden sich Aufgabenvorschläge, z.B. die subjektiv „wichtigsten ,Wegmarken‘“ (S.95) zu benennen. Da die aufgeführten Daten aber überwiegend nicht in den Themeneinheiten angesprochen werden, haben die SchülerInnen für solche Gewichtung keine Wissensgrundlage.
Das Lehrwerk ist in die drei inhaltlichen Schwerpunkte „Fremdsein“, „Begegnungen“ von islamischer und christlicher Welt sowie die historische Betrachtung der Entwicklung von „Menschenrechten“ unterteilt, die in neun Kapiteln abgebildet werden.

Im Kapitel l zur Fremdheitserfahrung von „Römern, Germanen und Barbaren“ werden verschiedene Etappen vorgestellt, von Marius’ Krieg gegen die Cimbern und Teutonen über Caesars Germanendarstellung in De Bello Gallico zu Tacitus und schließlich zur allmählichen „Germanisierung“ der römischen Armee. Zwar sind die Verfassertexte ordentlich und die Textquellenauswahl überwiegend gelungen, gleichwohl bleiben bei dem eingeschränkten Blick – hier auf die Frage des „Fremdseins“ – zentrale andere Fragen – etwa nach dem Zerfall des Römischen Reichs – doch nur unbefriedigend angesprochen. Dass diese strukturellen Fragen in der Mittelstufe geklärt worden sind, bleibt ein frommer Wunsch.
Problematisch erscheint ein Teil der Bildquellenauswahl. So finden sich zwei Historiengemälde aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert, die zwar hinsichtlich ihrer zeitlichen Entstehung identifiziert werden, deren Überschriften aber den Fokus auf die Antike lenken. „Schlacht zwischen Germanen und Römern am Rhein“ (S.25, von dem deutschen Maler Friedrich Tüshaus aus dem Jahre 1876) lautet die eine Bildüberschrift; „Eroberung Roms auf einem Historiengemälde – eine realistische Darstellung?“ (S.28) hinterfragt zumindest die zweite Überschrift (US-amerikanisches Gemälde aus den 1960er Jahren) die Aussagekraft solcher Bildquellen. Allein die Hell-Dunkel-Kontrastierung verweist auf die Zeitgebundenheit der Gemälde. Werden in Tüshaus’ Gemälde aus dem jungen Kaiserreich des Kulturkampfes die germanischen Helden als lichte Recken mit Flügelhelm verklärt, dienen die Germanen in Zeiten des Kalten Krieges als düstere, unzivilisierte, fratzenhafte Barbaren, die das lichte Rom heimsuchen. Doch die Arbeitsaufträge (S.29) zu diesen beiden Materialien fordern nur zu untersuchen auf, wie „die Perspektive des Künstlers auf die Römer und Germanen“ sei bzw. „wie die ,Barbaren‘“ dargestellt werden. Ein Bezug auf die jeweilige Entstehungszeit bleibt bei den Aufgaben dem Zufall überlassen. Das ist angesichts der heute immer dominanter werdenden Kraft der Bilder durch elektronische Medien äußerst schade. Jede Gelegenheit zum ideologiekritischen Umgang mit Bildern müsste genutzt werden, statt diese zur bloßen Illustration einzusetzen.
Die Karte (S.22) zur Lage des Reiches im 3. Jahrhundert weist gleich mehrere Detailfehler auf, die auf die Eile der Herstellung verweisen: Eine verwaiste Pfeilspitze in Nordafrika ist wohl das Relikt eines gelöschten Wanderzugs von Franken. Die Heruler sind farblich von anderen Germanenstämmen und -„völkern“ abgehoben, ihnen wird der Seeraubzug in die Ägäis zugeschrieben, bei dem sie sich den Goten anschlossen. Grundsätzlich sollte angeregt werden, im Rahmen dieses Themas endlich vom Begriff der „Völker“ wegzukommen, der seit seiner Prägung im 19. Jahrhundert eine Homogenität suggeriert, die mit der Realität der Wanderungsperiode nichts zu tun hat.
Im zweiten Kapitel werden uns die Weltbilder in Europa und Asien von 1300–1500 anhand religiös-kulturell überformter Kartenwerke präsentiert. Die sogenannte Ebstorfer Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert mit Jerusalem als Zentrum der Welt und die koreanische Kangnido-Karte (1402), die im Zentrum der Welt den chinesischen Kaiser verortet, werden einander gegenübergestellt. Dabei sind interessante Gemeinsamkeiten festzustellen, tauchen doch in europäischer wie chinesischer Tradition Fabelvölker wie Acephali (Menschen ohne Kopf) auf (S.53). Der Materialteil mit Reiseberichten und Abbildungen (Fresken, Stiche, Kartenillustrationen) widmet sich noch dem langlebigen Homophagen-Mythos (Menschenfresser) in Amerika. Insgesamt scheint mir in diesem Teil der Informationsteil an Verfassertexten gegenüber dem üppigen grafischen Materialteil zu kurz geraten. Erkenntnisreich wäre etwa gewesen, die Abkehr Chinas von den Entdeckungsreisen des erwähnten Zheng He (S.42) in ihren Folgen zu thematisieren. Ähnlich wie Japan schottete sich das Reich der Mitte von kulturellen Einflüssen – und damit vom technischen Fortschritt – ab. Während Japan allerdings die Modernisierung in der Meiji-Periode (1868–1912) partiell nachholte und selbst zur Kolonialmacht wurde, musste China dem Druck der militärisch überlegenen europäischen Kolonialmächte in Form von Freihandelszonen und Schutzgebieten wie dem deutschen Kiautschou nachgeben.
Das dritte Kapitel zur Migration am Beispiel des Ruhrgebiets konzentriert sich auf die polnischsprachigen Zuwanderer im 19. Jahrhundert und die türkischen Zuwanderer seit den 1960er Jahren. Ist die inhaltliche Gliederung gelungen, so würde man sich vielleicht noch etwas mehr und zuweilen längere Textquellen wünschen, um die SchülerInnen auch an Klausurformate heranzuführen. Inhaltlich führen die Quellen fast bis in die Gegenwart und greifen aktuelle Aspekte der Diskussion um die türkische Zuwanderung auf: einerseits die unterdurchschnittlichen Bildungserfolge dieser Migrantengruppe, andererseits die Rückwanderung von Teilen der türkischstämmigen Bildungselite, die trotz Abschlüssen mit einem Stigma auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu kämpfen haben.

Der zweite inhaltliche Schwerpunkt zu den christlich-islamischen Begegnungen umfasst nur zwei Kapitel (4 und 5). Das erste befasst sich mit dem Verhältnis von Religion und Staat in beiden Religionen. Bei der Betrachtung des Christentums ist der Blick auf den Investiturstreit fokussiert– mit erfreulich breiter Auswahl an Forschungsmeinungen. Wünschenswert wäre allerdings ein differenzierterer Ausblick über den Kompromiss des Wormser Konkordats hinaus gewesen. Die neue Spaltung in die geistliche (Spiritualia – durch den Papst) und weltliche (Temporalia – durch den König) Belehnung wurde in den katholischen europäischen Staaten nicht einheitlich gehandhabt. Hier hätte sich ein Vergleich zwischen dem Reich und Frankreich angeboten. Das wäre auch eine leichte Annäherung an den Anspruch des Teilkapitels, sich mit dem „lateinisch-römischen Westen“ (S.96) zu befassen.
Das Teil-Kapitel „Geistliche und weltliche Macht im Islam“ zeichnet im Prinzip die Erosion des Machtanspruchs der Kalifen als Nachfolger Mohammeds nach. Das Schisma in Sunna und Schia, aber auch schlicht die Größe des eroberten Gebiets werden als Faktoren angeführt. Im Materialteil dominieren hier die Sekundärquellen, die Mohammeds Doppelrolle als religiöser und politischer Führer und den Umgang des islamischen Rechts damit umreißen. Vielleicht wären hier mehr Koran-Ausschnitte angebracht gewesen, die strenggläubigen muslimischen SchülerInnen möglicherweise als einzig akzeptable Diskussionsgrundlage gelten.
Insgesamt erscheinen die beiden Teil-Kapitel doch etwas unterschiedlich konzipiert. Während sich das Kapitel zum Christentum auf die Zeit des Investiturstreits beschränkt, greifen manche Materialien zum Islam-Kapitel weiter aus und leiten aus dem islamischen Staatsverständnis, nach dem der Staat lediglich eine muslimische Lebensweise zu gewährleisten habe, eine grundsätzliche Neigung zum Autoritarismus her.
Das fünfte Kapitel prüft, ob Islam und Christentum einander in einer Konfrontation begegneten. Die Teilkapitel greifen zunächst den Wissenstransfer durch die Muslime auf. Durch sie kam Wissen aus China und Indien, aber auch das hellenistische Erbe in den lateinischen Westen, besonders über das muslimische Spanien (al andalus). Einen Schwerpunkt bildete die Medizin. Mit den Kreuzzügen befassen sich zwei Teil-Kapitel: mit der Frage der Motivation (religiös oder materiell) und der Integration der Europäer im Orient während der Existenz der Kreuzfahrerstaaten.
Als letzten Aspekt einer Konfrontationsgeschichte untersucht das Lehrwerk die Begegnung zwischen Osmanischem Reich und Europa und folgt einem strukturalistischen Ansatz. So werden die Ursachen der politischen Schwäche Europas (Territorialisierung, Krise der Katholischen Kirche und des Lehnssystems) und des osmanischen Erfolgs (loyale Sipahi-Reiterei auf der Basis nicht vererbbarer Timar-Lehen und Militärsklaven der Janitscharen als Kern der überlegenen Armee, Toleranz innerhalb des Millet-Systems) erläutert. Hinterfragt werden muss das Festhalten am Begriff des „christlichen Europa“ (S.144) angesichts der Hegemoniekämpfe verschiedener Dynastien. Das Buch geht kurz auf den Hundertjährigen Krieg zwischen den Plantagenet und Valois um die Vorherrschaft in Frankreich ein, während die Auseinandersetzung zwischen den Valois und Habsburgern fehlt. Frankreich geht in dieser Zeit sogar ein Bündnis mit dem Osmanischen Reich ein. Hier wird die Kehrseite des engen thematischen Zugriffs deutlich, der teilweise den zum Verständnis notwendigen Kontext zu wenig einbezieht.
Gelungen ist in dem Teilkapitel aber die Zusammenstellung der Quellen, die jeder dichotomischen Deutung im Sinne eines großen christlich-muslimischen Zusammenpralls entgegensteht. Schon bei der Eroberung Konstantinopels, so zeigt eine Quelle, leisteten etwa christliche Serben dem Sultan Heeresfolge, während in der Stadt auch Türken lebten. Auch die Wahrnehmung der Osmanen war nicht gänzlich ablehnend, galten sie etwa manchen Protestanten als positiver Kontrast zur katholischen Kirche. Problematisch erscheint die zu polarisierende Überschrift zur osmanischen Knabenlese Devschirme: „Barbarei oder Fortschritt?“ (S.146). Der Verfassertext erläutert dazu: „Aus der Sicht der christlichen Reiche Europas bildete das aus ihrer Wahrnehmung unmenschliche System der Knabenlese den Beweis für die ‚türkische Barbarei‘“(S.147). Was soll der doppelte Verweis auf die Perspektivgebundenheit dieses Urteils? Die gesetzmäßige temporäre Versklavung von Kindern in den persönlichen Besitz des Sultans und ihre Zwangskonversion und Indoktrination zu religiösem Eifer und bedingungsloser Loyalität zum Sultan sollte auch nach den Maßstäben des Grundgesetzes, die dem Operator „Bewerten“ zugrunde liegen, nur negativ bewertet werden, selbst wenn dabei beeindruckende Karrieren bis zum Großwesir entstanden. Und worin sollte der „Fortschritt“ bestanden haben – etwa für die betroffenen christlichen Gebiete, die diesen Verlust an männlichem Nachwuchs zu verkraften hatten? Eine Grundlage für diesen Begriff in der Überschrift zu finden fällt schwer. Ein historisches Sachurteil (Operator „Beurteilen“) zur Devschirme kann sicher differenzieren, den Aspekt sozialer Aufstiegsmöglichkeiten, aber auch die enorme militärische Bedeutung der Devschirme als Basis für das Janitscharenkorps sowie die Allgegenwart von Sklaverei in der christlichen wie der muslimischen Welt einbeziehen. Abschließend wäre es in diesem Teilkapitel auch interessant gewesen, die Rolle der kulturellen Abschottung (z.B. Absage an den Buchdruck) für den Niedergang des Osmanischen Reiches stärker zu beleuchten. Hier erfolgen nur kurze Hinweise, etwa auf das Fehlen weltlicher Universitäten.

Das letzte Schwerpunktthema des Bandes sind die „Menschenrechte in historischer Perspektive“. Ein kurzes Einleitungskapitel spannt den Bogen von den griechischen Stoikern bis zum arabischen Frühling des Jahres 2011. Dabei wird immer zwischen universellem Anspruch und tatsächlicher Gültigkeit differenziert. Auch die Frage, inwieweit Menschenrechte als westlicher Import – etwa in China oder in manchen muslimischen Ländern – wahrgenommen werden, problematisieren die Verfasser.
Ein bisschen holprig schließen sich dann die üblichen Kapitel zum Prozess der Einhegung staatlicher Gewalt in Europa an, von der Magna Charta über die Glorious Revolution zu den Schlüsseltexten der Aufklärung, etwa der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau). Im Kapitel zur Französischen Revolution erscheinen die Quellen erneut ein wenig kurz, um noch für die Klausurvorbereitung zu taugen. Gelungen sind die weiteren Kapitel, die nach den Rechten der Frauen und der schwarzen Sklaven in Frankreich bzw. seinen Kolonien und der Befreiung der Sklaven und der Durchsetzung ihrer Bürgerrechte in den USA fragen.

Zusammenfassend betrachtet, überzeugt der Band durch eine insgesamt gute Auswahl an schriftlichen Quellen, während Teile des Karten- und Bildmaterials sowie einige überkommene Begriffe noch eine Überarbeitung erfahren könnten. Eine konzeptuelle Weiterentwicklung erscheint besonders im Kapitel zur Begegnung von asiatischer, islamischer und christlicher Welt lohnenswert. Für die SchülerInnen sind die Verfassertexte gut lesbar, wenngleich sie angesichts der riesigen Themenbreite und des begrenzten Platzes einerseits sehr abstrahieren, sich andererseits manchen historischen Kontext anhand von Zusatzmaterialien erarbeiten müssen.

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