Geschichte, 9./10. Schuljahr, Gymnasium, Gesamtschule
Geschichte und Geschehen – Einführungsphase
Herausgegeben von | Dzubiel, Christina et al. |
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Erschienen | Stuttgart: Klett, 2014 |
Seitenanzahl | 256 |
ISBN | 978-3-12-430103-1 |
Geeignet für | Nordrhein-Westfalen |
Rezensiert von | Zloch, Stephanie (Wissenschaftlerin), 10. Februar 2017 |
Rezension von Zloch, Stephanie (Wissenschaftlerin)
Der aktuelle Kernlehrplan für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II, der in Nordrhein-Westfalen 2014 in Kraft getreten ist, legt für die Einführungsphase drei Inhaltsfelder fest:
1) Erfahrung mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive,
2) Islamische Welt – christliche Welt: Begegnungen zweier Kulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit sowie
3) Menschenrechte in historischer Perspektive.
Innerhalb dieser Inhaltsfelder sind konkrete inhaltliche Schwerpunkte festgelegt. Passend zu diesem Kernlehrplan sind mehrere neue Geschichtsschulbücher erschienen, etwa das „Kursbuch Geschichte“ (Cornelsen) oder „Buchners Geschichte“ (Buchner). Das hier zu rezensierende Schulbuch aus der Reihe „Geschichte und Geschehen“ (Klett) orientiert sich in seinem Aufbau sehr eng an den offiziellen Vorgaben, bis hin zur direkten Übernahme von Formulierungen aus dem Lehrplan für die einzelnen Kapitelüberschriften.
Der Aufbau des Lehrwerks und die zu erlernenden historischen Methoden sind auf aufklappbaren Umschlagsinnenseiten beschrieben. Auf den ersten Blick wirkt dies sehr nutzungsfreundlich, doch bei einer näheren inhaltlichen Sichtung stellen sich einige Fragen. Es gibt fünf Tafeln „Arbeitsschritte zur Interpretation“, und zwar zu Textquellen, Karten, Bildquellen, Darstellungen und Karikaturen. Dabei sind die Teile Analyse – Erläuterung – Beurteilung mitunter wenig trennscharf. So ließe sich z. B. die Frage „Welche kartografischen Informationen fehlen?“ nicht nur unter „Beurteilung“, sondern auch im Teil „Analyse“ behandeln, während die Frage nach der Funktion einer Quelle nicht nur für den Teil „Erläuterung“, sondern auch für den Teil „Beurteilung“ relevant wäre. Dass eine Quelle auf ihre politisch-ideologische Aussagekraft befragt werden sollte, steht so explizit nur bei den Karikaturen, wäre aber selbstverständlich auch auf die anderen Quellenarten anzuwenden.
Dem inhaltlichen Teil des Lehrwerks vorgeschaltet ist eine umfangreiche theoretische Einleitung „Geschichte deuten und reflektieren“ von zehn Seiten. Die Messlatte für Schülerinnen und Schüler wird dabei hoch angesetzt: mit einer ausführlichen Charakterisierung von Kompetenzen, einer von vielen Fachbegriffen durchzogenen Sprache und einer suggestiv-nachbohrenden Zwischenüberschrift „Wie steht es mit meiner Sachkompetenz und Urteilsfähigkeit?“ (S. 7). Ein solcher Erwartungshorizont wäre akzeptabel, wenn denn die Einleitung selbst auf der Höhe der aktuellen historischen Fachdiskussionen stünde. Dies ist aber leider nicht der Fall. Das zeigt sich z. B. bei der Erläuterung von „Dimensionen, innerhalb derer sich Geschichte abspielt“ (S. 10). Im Infokasten „Kulturen und Staaten“ wird nicht darauf eingegangen, dass das Konzept Kulturen in den letzten zwei Jahrzehnten sehr vielfältig und kontrovers diskutiert wurde, stattdessen wird postuliert, dass es sich um großräumige Gebilde handele, die letztlich überwiegend religiös geprägt seien, und dass somit klar unterscheidbare „christlich-abendländische“, „ostasiatische“ und „islamische“ Kulturen benannt werden können. Im Infokasten „Räume“ irritiert die Feststellung, diese seien „ursprüngliche, natürliche Gegebenheiten, die das Leben jedes Menschen formen, die aber auch ihrerseits, mit geschichtlich wachsender Intensität durch den Menschen geprägt und verändert werden.“ Eine solche teils naturdeterministische, teils materiell-funktionale Sichtweise ist seit langem überholt, besteht doch gerade eine zentrale Erkenntnis des „spatial turn“ in der Geschichtswissenschaft darin, Räume als soziale Konstrukte zu betrachten.
Ein essentialistischer Grundton zeigt sich an vielen Stellen der Einleitung, etwa in der Aussage, die Geschichtswissenschaft bemühe sich darum, „unter Zuhilfenahme exakter wissenschaftlicher Methoden der historischen Wirklichkeit so nahe wie möglich zu kommen“ (S. 8). Die als notwendig eingeforderte Dekonstruktion historischer Mythen und politischer Instrumentalisierungen wird relativ schlicht als ideologiekritische Widerlegung verstanden. Ein letzter Hinweis sei, dass „Geschichte“ und „Erinnerung“ gleichgesetzt werden (S. 8) und dass statt eines Bezugs auf die Erinnerungsforschung wiederholt von einem „Besinnen auf die Vergangenheit“ die Rede ist. Von Schülerinnen und Schülern einen kritischen und reflektierten Umgang mit Geschichte zu fordern, selbst aber nicht den etablierten fachwissenschaftlichen Standards zu genügen, ist problematisch.
Der inhaltliche Teil ist, dies sei vorab gesagt, deutlich besser gelungen. Im ersten Inhaltsfeld („Erfahrung mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive“) geht es im ersten Kapitel um Römer und Germanen, ihre wechselseitigen Beziehungen und ihre jeweiligen Selbst- und Fremdbilder. Ein regionaler Bezug ist naheliegend und überzeugend mit dem Rheinland als frühem Begegnungsraum hergestellt.
Im zweiten Kapitel werden Selbst- und Fremdbilder von Asien und Europa anhand mittelalterlicher Karten und frühneuzeitlicher Reiseberichte behandelt. Insbesondere der Abschnitt zu den Karten ist sehr überzeugend und greift die lebhafte Forschungsdynamik der letzten Jahre zu Weltbildern und Raumvorstellungen auf. Berücksichtigt werden sowohl europäische als auch chinesische und japanische Karten. Bei den Reiseberichten wird zu Recht darauf hingewiesen, dass diese nicht nur Vorstellungen ferner Länder wiedergaben, sondern auch dazu beitrugen, Selbstbilder zu konfigurieren, allerdings kommen im Quellenteil nur europäische Reisende zu Wort.
Das dritte Kapitel behandelt Migrationsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts im Ruhrgebiet und fokussiert auf die beiden Großgruppen der „Ruhrpolen“ und der türkischen „Gastarbeiter“. Differenziert wird bei den „Ruhrpolen“ nach Masuren und Polen, allerdings fehlt der Verweis auf die Teilungen Polens und damit auf einen wichtigen Anlass für Germanisierungspolitik und erhöhte Mobilität. Der Autorentext benennt kritisch die schwierige soziale Lage der MigrantInnen, die Restriktionen im lange Zeit als „Nicht-Einwanderungsland“ firmierenden Deutschland und die Gefahr durch rechtsextreme Anschläge. Der Quellenteil präsentiert ausführlich autobiographische Erfahrungen von MigrantInnen. Mit geschärftem Blick durch jüngste Forschungen zu Migration und Integration in Schulbüchern1typo3/#_ftn1 fällt allerdings auf, dass mehrfach als Titel von Geschichtskarten der Begriff „Migrationsströme“ (S. 72 und 74) verwendet wird, der eine an Naturkatastrophen anknüpfende Wasser-Metaphorik (z. B. Flut, Welle) bedient. Auch ist es fraglich, warum gerade Fußball-Stars als „Musterbeispiele für gelungene Integration“ dienen müssen – so als ob unterhalb der Schwelle außergewöhnlicher Prominenz für MigrantInnen kein gelungenes Leben in Deutschland möglich wäre.
Das zweite Inhaltsfeld („Islamische Welt – christliche Welt: Begegnungen zweier Kulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit“) umfasst das vierte und fünfte Kapitel des Lehrwerks. Im Kapitel „Religion und Staat“ wird für das Christentum exemplarisch der Investiturstreit des Hochmittelalters verhandelt, wodurch das christliche Verhältnis zwischen Religion und Staat eine große Tiefenschärfe erhält, während die Darstellung des Islams eher synthetisierend einen Gesamtüberblick über die Machtverhältnisse der frühen Jahrhunderte unternimmt. Zudem wird im Quellenteil für den Islam mehrfach die Stimme einem einzelnen Autor, dem Orientalisten Bernard Lewis, erteilt. Sehr differenziert zeigt sich hingegen das fünfte Kapitel, das islamisch-christliche Begegnungen anhand von Wissenschaft, Kreuzzügen und der türkischen Herrschaft in Europa diskutiert. Hier kommen im Quellenteil mitteleuropäische, südosteuropäische, türkische und arabische Autoren zu Wort, so dass dieses fünfte Kapitel im Lehrwerk die Prinzipien Verflechtung und Multiperspektivität am besten umsetzt.
Das dritte Inhaltsfeld („Menschenrechte in historischer Perspektive“) setzt im sechsten Kapitel mit einem kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der Menschenrechte ein. Das siebte Kapitel ist der Zeit der Aufklärung gewidmet. Indem zunächst als zwei Beispielwege europäischer Geschichte der französische Absolutismus und der englische Parlamentarismus vorgestellt werden, bevor dann grundlegende Denker wie Voltaire, Kant, Locke und Rousseau zu Wort kommen, verbreitet dieses Kapitel den wenig aufregenden Charme historischen Grundwissens. Auch die Quellen sind eher klassisch an den großen Texten der damaligen Zeit ausgerichtet. Das achte Kapitel zur Französischen Revolution kommt vorwiegend ereignisgeschichtlich daher; der Zusammenhang mit Menschenrechten erscheint untergeordnet, obwohl im Quellenteil die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte abgedruckt ist. Neue Aspekte weist ein Abschnitt auf, der den Frauen und den Einwohnern der Übersee-Kolonien in der Französischen Revolution gewidmet ist. Hier kann anhand der Quellen kritisch über Grenzen und Reichweite der Menschenrechte von 1789 diskutiert werden. Mit diesem Abschnitt ist eine gute Überleitung geschaffen zum neunten und letzten Kapitel, das die Frage der Menschenrechte in den USA im Kontext von Sklaverei und Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts thematisiert und dabei den Bogen bis zur Ära Barack Obama spannt.
Das vorliegende Werk bietet den Schülerinnen und Schülern drei Test-Klausuren und eine auf die Prüfungssituation vorbereitende methodische Zusammenfassung am Ende des Bandes („Oberstufen Know how“), die Arbeitsschritte zur historischen Urteilsbildung und einen Überblick über Operatoren in den drei didaktischen Anforderungsbereichen (Reproduktion, Reorganisation und Reflexion) bereithält.
Die Autorentexte sind in der Regel gut verständlich geschrieben. Viele Zwischenüberschriften sind in Frageform gehalten und verweisen so auf die Möglichkeit konkurrierender Deutungen. Die Quellenteile genügen den Anforderungen an Multiperspektivität, hätten aber zuweilen noch stärker auf Forschungskontoversen eingehen können. Die Aufgaben sind so formuliert, dass die Operatoren am Satzbeginn stehen. Eine kleine Zahl in Klammern am Ende jeder Aufgabe verweist auf den jeweiligen didaktischen Anforderungsbereich. Dadurch werden die methodischen Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler sehr transparent gemacht. Es überwiegt bei den Aufgaben allerdings die Auseinandersetzung mit den im Buch präsentierten Darstellungen und Quellen. Die Schülerinnen und Schüler werden nur in Einzelfällen dazu angeregt, eigene Recherchen anzustellen – am meisten noch im lebensweltlich naheliegenden Kapitel zur Migration im Ruhrgebiet.
Zusammenfassend liegt ein in weiten Teilen gut gelungenes Lehrwerk vor, das das Leitmotiv der Begegnungen, der Reisen, der Selbst- und Fremdbilder überzeugend umsetzt. Dabei kommt auch eine Quellenart wie die historischen Karten, die lange Zeit eher zu den Stiefkindern in deutschen Geschichtsschulbüchern gezählt hatte, prominent zur Geltung. Das Lehrwerk demonstriert so die Leistungsfähigkeit thematischer Längsschnitte und exemplarischer Querschnitte für die historische Ausbildung von Schülerinnen und Schülern. Für künftige Auflagen sollte allerdings dringend eine Überarbeitung der theoretischen Einleitung erfolgen.
1Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Schulbuchstudie Migration und Integration, Berlin 2015.